Wie ein Haus aus Karten
sprengenden Lebensmusters ihres Mannes.
Sowohl meine Pflegemutter Annemi Neckermann als auch mein Cousin Helmut Knab berichten mir davon, dass Mady, im Gegensatz zu ihrem Mann, der kurze Abenteuer bevorzugt, zwei länger andauernde Beziehungen hat. Es ist nicht das Einzige, was Annemi an ihrer Schwägerin irritiert. Als ich sie einmal bitte, mir etwas über meine Mutter zu erzählen, sagt sie: »Deine Mutter war so animalisch.« Als Beleg dafür schildert sie mir die folgende Begebenheit: Es ist ein besonders kalter Winter, Annemi hat sich nach Berlin durchgeschlagen, um die Langs zu besuchen. Halberfroren, mit Schüttelfrost und Fieber kommt sie im Kirchweg an. Als Mady die Tür öffnet, erschrickt sie über den erbarmungswürdigen Zustand ihrer Schwägerin. Während sie die Zitternde in die Arme nimmt, fühlt sie die Hitze des Fiebers. Mady zieht erst sich und danach Annemi die Kleider aus und trägt ihre Schwägerin ins Bett, um sie mit ihrem nackten Körper zu wärmen. Annemi hat diese Begebenheit nie vergessen. Es muss ihr schwergefallen sein, mir davon zu erzählen. Ich bin ihr dankbar dafür.
Die erste außereheliche Beziehung meiner Mutter liegt bereits vor den Hofheimer Jahren. Ihr Liebhaber ist blond und groß und trägt eine Uniform. Das ist auf dem Foto von 1938 zu sehen, das ihn unterm Weihnachtsbaum neben meiner Mutter zeigt. Er hat meine Schwester Juli auf dem Arm. Sie ist wenige Monate alt. Die beiden Großen, Uschi und Mockel, sind nicht auf dem Foto, auch nicht der Vater. Er ist mit ihnen über Weihnachten in den Skiurlaub nach Berchtesgaden gefahren. Zum ersten Mal ist die Familie an Weihnachten nicht zusammen.
Der Wunschzettel meiner Schwester Uschi an das »liebe Christkind im Himmel, Himmelsstraße, Wolkenkratzer II. Stock« stammt aus diesem Jahr. Sie schreibt: »Ich weiß ja, dass es dieses Jahr nichts gibt«, und fügt hinzu: »Überhaupt ist es schon genug, dass wir nach Berchtesgaden dürfen, denn ich freue mich so sehr.« Uschi erinnert sich an unbeschwerte Tage im Schnee. Sie macht sich keine Gedanken darüber, dass die Mutter und die kleine Schwester Juli nicht dabei sind, im Gegenteil, sie und ihr Bruder haben den Vater endlich einmal für sich allein.
Jahre später erzählt mir Uschi von dem einzigen großen Streit zwischen den Eltern, den sie miterlebt hat. Er ist diesem Weihnachtsfest vorausgegangen. Bei einem gemeinsamen Spaziergang wird mein Vater laut, meine Mutter weint, und die beiden Großen, Uschi und Mockel, sind verschreckt und fühlen sich ganz klein. Es kommt zu keiner weiteren Auseinandersetzung mehr im Beisein der Kinder. Der Freund meiner Mutter ist an der Front gefallen. Für mich bleibt er anonym, weil ich nicht einmal seinen Namen kenne. Ich hätte gerne mehr von ihm gewusst.
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Die Rollen meiner Eltern sind klar verteilt. Mein Vater ist der Intellektuelle mit zwei linken Händen, meine Mutter die Intuitive, Zupackende. Er ist es auch, der in den Nachkriegsjahren für den Lesestoff der Familie sorgt. Einfach ist das nicht. Bücher werden noch nicht wieder gedruckt. Der Rowohlt Verlag stillt den Hunger nach Literatur mit besonderen Ausgaben. Monatlich bringt der Verlag sogenannte Lesehefte heraus, die auf Zeitungspapier gedruckt sind. Ein Heft mit rund dreißig Seiten kostet fünfzig Pfennig, der Doppelband eine Mark. Mein Vater kauft sie alle. Auf einige hat er mit Bleistift seinen Namen geschrieben. Ein paar Hefte sind noch in meinem Besitz. Sie sind teilweise stark beschädigt, zerrissen und mit Klebstreifen zusammengehalten.
Im August 1946 kommt im Rowohlt Verlag eine weitere Reihe der Lesehefte heraus, die sich »Story – Novellistik aus dem Ausland« nennt. Das Heft 2, Jahrgang 1, vom September 1946 enthält Beiträge von Joseph Conrad, William Saroyan, Jean Giono, Hans Christian Branner und Chang Tien Yi. Ein Text von Günther Weisenborn mit dem Titel »Memorial« fasziniert mich besonders. Er vermittelt mir den nachhaltigsten und authentischsten Einblick in die Angst und Ausweglosigkeit all derer, die sich in der Zeit des Dritten Reiches gegen das Regime zu wehren versuchen. Gewehrt hat sich mein Vater wohl nur zu Beginn. Am 1. Juli 1942, am Tag meiner Geburt, wird Dr. Hans Lang unter der Nummer 8 739 482 Mitglied der NSDAP .
In einem der bereits erwähnten Zeitschriftenromane finde ich ein Blatt, auf dem ein Monolog steht, den André Gide einem fiktiven Freund und Jünger hält. Der maschinenschriftliche Text, den mein Vater aufgehoben und
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