Wie ein Haus aus Karten
Machtanspruch, eine gehörige Portion Skrupellosigkeit und die Konditionierung auf »Siegen, siegen, siegen«. Mein Pflegevater und mein Vater arbeiten in der gleichen Branche, bewegen sich im gleichen beruflichen Umfeld, führen beide im Dritten Reich »kriegswirtschaftlich wichtige« Betriebe, machen ähnliche Geschäfte im besetzten Polen, verfügen über die gleichen Kontakte zu den Drahtziehern. Doch während Hans nach dem Untergang des Nationalsozialismus dank seiner schnellen Entnazifizierung in kürzester Zeit ein erstaunliches Wirtschaftsimperium aufbauen kann und damit seinem Schwager auf der Erfolgsleiter um Längen voraus ist, muss Necko noch bis 1948 im Gefängnis sitzen.
Ob mein Vater diese Rivalität ebenso empfunden hat wie mein Pflegevater, weiß ich nicht, bezweifle es aber. Denn während Necko glaubt, vermeintliche Mängel wie seine fehlende akademische Ausbildung durch berufliche Erfolge kompensieren zu müssen, hat sich Hans in dem ihm eigenen Gefühl der Omnipotenz nie mit anderen verglichen, auch nicht mit seinem Schwager. Überrascht davon, bei der intensiven Beschäftigung mit meinen beiden Vätern so viele ähnliche Wesenszüge und Verhaltensmuster zu finden, berichte ich meiner Schwester Uschi von meinen Erkenntnissen. Sie will nichts davon wissen und fertigt unter dem Eindruck, dass ich unserem Vater Unrecht tue, noch am selben Tag eine Liste an. Ich halte sie in Händen. Das Blatt ist in der Mitte durch eine vertikale Linie geteilt. Links steht der Name des Vaters, rechts der des Pflegevaters. Meine Schwester Uschi hat Rubriken angelegt wie Herkunft, Schule, Studium, Sport, Freunde, Heirat, Kinder, Familie, Arbeit, beruflicher Erfolg.
Bei diesem Wettkampf ist mein Vater Sieger nach Punkten, selbst wenn meine Schwester ihn in der Kategorie »Sport« als unsportlich einstuft und unter »beruflicher Erfolg« bei beiden »sehr groß« vermerkt. Auch unter dem Stichwort »Heirat« steht bei beiden die gleiche Eintragung: »Liebesheirat«. In den restlichen Kategorien fällt Necko in den Augen meiner Schwester Uschi weit ab. Das Souveräne, Spielerische, Draufgängerische, Unkonventionelle wie die intellektuelle Schärfe meines Vaters teilt mein Pflegevater tatsächlich nicht, er hat weder Hans’ ausgeprägten Sinn für Freundschaften – obwohl dieser sie gelegentlich ausnutzt – und schon gar nicht dessen Wirkung auf Frauen. Das sind für Necko auch keine erstrebenswerten Eigenschaften. Selbst wenn er in Gesellschaft gerne flirtet und die Damen mit seinen galanten Handküssen für sich einnimmt, wirkt er im Gegensatz zu seinem Schwager Hans nicht wie ein Löwe unter Lämmern, sondern wie ein Hahn im Korb.
Während mein Vater der Lebemann bleibt, der er zeit seiner Jugend gewesen ist, offen für jede Art sinnlicher Genüsse ebenso wie für die Freuden des Familienlebens, wird mein Pflegevater zu dem ihm vielfach bescheinigten Arbeitstier, in dessen Leben die Familie, abgesehen von der Unersetzlichkeit seiner Frau Annemi, in den Aufbaujahren keine nennenswerte emotionale Rolle spielt.
Auch die Kampftechniken der beiden Männer sind unterschiedlich. Während das Aktionsfeld meines Vaters eher einer Stierkampfarena gleicht, in der er mit Grandezza und der intellektuellen Kraft eines Toreros im Spiel mit der Gefahr den Sieg erringt, bietet mein Pflegevater nicht nur hoch zu Ross, sondern auch im Berufsleben ein Bild angespannter Konzentration, strenger Disziplin und eines dominierenden Willens. Seine Siege erwachsen aus der Unterwerfung des anderen.
Manchmal denke ich darüber nach, wie sich das Verhältnis der beiden Männer entwickelt hätte, wenn mein Vater nicht frühzeitig aus dem Ring geworfen worden wäre. Wie es mit den Langs und den Neckermanns weitergegangen wäre. Ob es die Schwägerinnen Annemi und Mady geschafft hätten, die Bindung der Familien untereinander aufrechtzuerhalten. Vor allem aber habe ich mir immer wieder die Frage gestellt: »Was wäre aus mir geworden, wenn?«, auf die auch Simone de Beauvoir in ihren Lebenserinnerungen Alles in allem keine Antwort gefunden hat. Während de Beauvoir wissen möchte, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie »andere Eltern gehabt hätte, nicht das erste Kind gewesen wäre, statt einer Schwester ein Bruder geboren wäre«, konzentrieren sich meine Gedanken letztlich nur auf eine einzige Frage: »Was wäre aus mir geworden, wenn meine Eltern und mein Bruder nicht tödlich verunglückt wären?« Eine Frage, die noch heute mein Herz
Weitere Kostenlose Bücher