Wie ein Haus aus Karten
haben sie sich nicht ausgesucht, aber auffallend ist, wie die Neckermanns nach Erklärungen und Entschuldigungen für das Verhalten des Großvaters suchen. ›Hat es ihm leidgetan, was er damals gemacht hat?‹, fragt Alexander Joel. ›Ja‹, antwortet der Neckermann-Enkel. ›Fühlte er sich schuldig?‹, fragt Alexander nach. ›Nein, nein. Sie wussten nicht, was sie taten. Alle machten mit‹, antwortet Julia Neckermann. Und ihr Bruder Lukas ergänzt: ›Wir haben in der Familie immer über die Gegenwart gesprochen. Und was in Zukunft passiert.‹«
Als ich mir eine Wiederholung dieser Dokumentation im Fernsehen ansehe, schleicht sich bei mir ein Gefühl ein, das sich nicht präzise, aber annäherungsweise mit Mitleid umschreiben lässt, Mitleid mit meinen beiden Neffen und meiner Nichte, weil ihnen die vermeintliche Familienehre einen klaren, kritischen und vielleicht am Ende sogar nachsichtigen und versöhnlichen Blick auf die Vergangenheit ihres Großvaters und damit auch auf ihre eigene Geschichte versperrt hat.
Einem Zusammentreffen mit den Joel-Enkeln können sie nicht gewachsen sein. Es gibt keine gemeinsame Ebene der Reflexion und keine gemeinsame Sprache. Die Neckermann-Enkel können Billy und Alexander Joel auch nicht mit Offenheit begegnen. Wie sollten sie? Offenheit hat es selbst innerhalb der Familie nicht gegeben, keine offen ausgetragenen privaten Probleme oder auch nur Meinungsverschiedenheiten. Hinzu kommt, dass sich meine Pflegeeltern auf einem Podest niedergelassen haben, an dem zu rütteln für die Familie undenkbar ist, erst recht in der Öffentlichkeit. Die Reaktionen von Markus, Julia und Lukas Neckermann in diesem Interview machen deutlich, dass dies noch gilt, als das Neckermann-»Imperium« längst untergegangen ist.
Ich habe der Zeit weit vorgegriffen. Noch ist es das Jahr 1939, und es ist Krieg. Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen am 1. September dieses Jahres beginnt der Zweite Weltkrieg. Mein Pflegevater kommentiert den Ausbruch des Krieges mit den Worten: »Hätte ich gewusst, dass dieser Tag der Beginn millionenfachen Blutvergießens werden sollte, hätte ich vielleicht besser aufgepasst.« Doch etwas bleibt Josef vom Tag des Kriegsausbruchs im Gedächtnis: »Als Arbeitstag fiel der 1. September für die ganze Wäsche- und Kleiderfabrik Neckermann ins Wasser. Wir waren alle viel zu nervös, um etwas Gescheites zustande zu bringen.«
Auch ein so schicksalhaftes Ereignis wie den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges kann Necko nicht losgelöst von seinen geschäftlichen Aktivitäten sehen. Im Gegenteil, dieser Krieg wird für ihn zu einer beruflichen Herausforderung. Er bietet ihm neue, faszinierende Möglichkeiten, seine unternehmerische Kreativität unter Beweis zu stellen. Voraussetzung dafür ist, dass er nicht an die Front muss. Beim Wehrbezirkskommando erreicht Josef für sich und seine wichtigsten Mitarbeiter die Freistellung vom Militärdienst. Das Zauberwort, das schon seinen Schwager vor dem Militärdienst bewahrt hat, heißt »unabkömmlich«. Statt in den Krieg zu ziehen, wird Josef Ende 1940 zum ehrenamtlichen Referenten der »Reichsstelle Kleidung und verwandte Gebiete« berufen. Neckos Aufgabe besteht darin, sich um die »Einkleidung von Hunderttausenden von Deutschen zu kümmern, die zum Arbeitseinsatz in den besetzten Gebieten dienstverpflichtet« sind. Hinzu kommen Arbeitsanzüge und spezielle Schutzkleidung für die in der Rüstungsindustrie Tätigen und schließlich die Beschaffung von Winteruniformen. Für seinen Einsatz für das nationalsozialistische Vaterland erhält Josef Neckermann das Kriegsverdienstkreuz Erster Klasse.
Mit Erklärungen zu seiner Vergangenheit in der NS-Zeit hat Necko keine Probleme. Er hat auch kein Unrechtsbewusstsein. In seinen Erinnerungen schreibt er dazu: »Wenn ich es nicht tue, macht’s ein anderer.« Wenn er nicht die Kaufhäuser jüdischer Unternehmer, die auswandern wollten, gekauft hätte, wenn er nicht in polnischen Gettos die Militäruniformen für die deutschen Soldaten produziert hätte, hätten es andere getan. Er ist sogar, wie so oft, stolz auf sich und überzeugt, Gutes zu tun. Seine Begründung: »Wir gaben den Juden [im Getto] Arbeit, halfen ihnen damit zu überleben.« Ob mein Pflegevater, wie auch mein Vater, ihnen tatsächlich geholfen haben zu überleben, ist angesichts der Geschichte zu bezweifeln. Keinen Zweifel aber gibt es daran, dass die Gefangenen Necko geholfen haben, seinen Auftrag zu
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