Wie ein Haus aus Karten
Scheidung zugesprochen worden war und den er dennoch nicht von der Mutter trennte, half ihr, die immer wieder ins Stocken geratene Kommunikation mit dem Vater ihres eigenen Sohnes aufzunehmen.
Er war neben ihr, als ihr der von ihrem ersten Mann beauftragte Kinderpsychologe, zu dem sie eigens nach Frankfurt geflogen waren, erklärte, sie solle, wenn sie ihren Sohn liebe, ganz aus seinem Leben verschwinden, um die Harmonie seiner neuen Familie nicht länger zu belasten. Er hielt sie nicht zurück, aber fest am Arm, als sie mit dem vorgewölbten Bauch der im siebten Monat Schwangeren aufsprang, mit dem Fuß aufstampfte und drohend auf den Psychologen zuging, während sie schrie: »Gut, dann erschießen Sie mich! Nur wenn ich tot bin, wird mein Sohn später nicht mehr nach mir fragen!« Der überraschte Psychologe rang nach Luft, dann um Fassung, wiederholte aber, wie von ihr verlangt, seine Forderung nicht schriftlich. Stattdessen kam der Vater ihres gemeinsamen Sohnes mit ihm und seiner neuen Familie zu einem ersten, allerdings auch einzigen gemeinsamen Besuch nach Berlin.
Ihr Glück war vollkommen, als sie nach mehreren Fehlgeburten ihren zweiten Sohn zur Welt brachte. Die Trennung von ihrem ersten Sohn war der traurigste Moment ihres Lebens, die Geburt des zweiten Sohnes der glücklichste.
Vierter Ort
Bei Kilometerstein 75,5
Vor mir liegen zwei Schwarzweißfotos von 1947. Sie sind auf der Terrasse in Oberursel aufgenommen. Das eine zeigt meine Großmutter Jula Neckermann, die aus einem geöffneten Fenster der Baracke in die Kamera lächelt, die vermutlich ihre Tochter Mady hält. Das Kleid meiner Großmutter ist schwarzgemustert, eine andere Farbe hat sie seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr getragen. Wie Schnee leuchten ihre weißen Haare in der Sonne, die auch auf ihr Gesicht fällt. Die Ellenbogen hat sie auf die Fensterbank gestützt. Es ist das Bild einer stattlichen Frau, einer Frau, die in sich ruht und diese Ruhe ausstrahlt. Meine Großmutter hat wieder ein Zuhause, und sie ist entschlossen, dieses Glück festzuhalten. In nur einer Nacht wird es ihr unwiederbringlich zwischen den Fingern zerrinnen.
Das zweite Foto ist eine Großaufnahme von mir. Im Hintergrund ist die geteerte Holzfassade der Baracke zu sehen, davor stehen Liegestühle, und im Vordergrund tanzt ein kleines Mädchen im karierten Badeanzug. Seine braunen Locken fallen bis auf die Schultern und sind mit Haarklammern gebändigt. Frech sieht es aus, selbstbewusst und energiegeladen. Das Kind schaut kritisch in die Kamera, die Augenbrauen gerunzelt, den Mund leicht geöffnet. Beim Tanzen lässt es sich nicht stören und wirft die Arme in die Luft. Damals bin ich fünf Jahre alt. Das Foto ist wenige Monate vor einem Ereignis aufgenommen, das das Leben zweier Familien, der Langs und der Neckermanns, von Grund auf verändern sollte.
Ich tobe im langen Flur der Baracke, als die Tür eines der vielen Zimmer aufgeht und meine Schwester Uschi, das einzige der Kinder, das das Ausmaß des soeben Gehörten begreift, mit tränenerstickter Stimme mich, die Jüngste, anschreit: »Kannst du nicht still sein?! Mockel und die Eltern sind tot!« Ich bin dann wohl still gewesen. Das Unfassbare erfassen kann ich nicht, auch wenn ich tagelang weine, ohne dass mich jemand beruhigen kann. Selbst meine Großmutter, die mir diese Begebenheit später erzählt, kann ihr jüngstes Enkelkind nicht erreichen. Es ist wie in einen Kokon eingesponnen, von der Umwelt abgeschnitten. Der Schock hat sich in seinem Innern eingenistet.
Meine Schwester Juli, die mit ihren neun Jahren alles bewusst miterlebt, spricht nicht über ihren Schmerz. Als sie wie alle anderen Kinder ihrer Klasse wenig später einen Schulaufsatz zum Thema: »Mein traurigstes Erlebnis« schreiben soll, steht am Ende der Stunde nur ein Satz in ihrem Schulheft: »Über das traurigste Erlebnis meines Lebens kann ich nicht sprechen.« Juli bekommt die Note Sechs.
Wann immer ich versuche, den Geschehnissen um den Tod meiner Eltern und meines Bruders näher zu kommen, entsteht ein anderes Bild. Und doch weiß ich, dass alle, die ich befragt habe, die Wahrheit sagen, ihre Wahrheit. Es wird mir nicht mehr gelingen herauszufinden, was wirklich geschehen ist. Ich kann nur die einzelnen Wahrheiten wie ein Puzzle zusammentragen, die dabei zutage tretenden Widersprüche auflösen kann ich nicht. Vielleicht fügen sich die einzelnen Schilderungen am Ende doch noch zu einem Bild zusammen.
Der Bericht der
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