Wie ein Haus aus Karten
Überfahrt ausgebrochenen Gelbfiebers nach Wochen der Quarantäne endlich mexikanischen Boden betreten darf. In die Annalen der Stadt Veracruz geht mein abenteuerlustiger Vorfahre als erster Deutscher ein und in unsere Familie bis heute als der Mann mit der Opferschale.
Zu Reichtum, Ländereien, Ansehen und einer schönen Kreolin aus dem Hause de la Luz Perez, einer Enkelin des Seeadmirals Don Manuel Rodriguez, gekommen, bleibt Peter Josef Lang dennoch bescheiden. Wie sein Sohn und späterer Chronist schreibt, »verstand er es, durch seine stete Hilfsbereitschaft gegen Arm und Reich und sein gleichbleibendes Entgegenkommen sich die Zuneigung der Landsleute wie der Einheimischen zu erwerben«.
Als einer seiner Untertanen an Cholera erkrankt, pflegt ihn Peter Josef Lang persönlich. Aus Dankbarkeit stiehlt dieser für seinen Herrn, dessen Sammelleidenschaft weithin bekannt ist, aus einer Höhle in den nahe gelegenen Bergen eine Opferschale, in der während der heidnischen Bräuche der nur dem Namen nach getauften Einheimischen das Blut der Geopferten gesammelt wird. Die Alabasterschale ist, wie der Chronist vermerkt, mit »mit Gold inkrustierten Arabesken altmexikanischer Kunst verziert und hat die Größe einer Suppenterrine«. Bei einem weiteren Versuch, für seinen Herrn auch noch den goldenen Deckel zu dieser Schale zu stehlen, der an einer Kette vom Gewölbe über der Opferstätte herabhängt, wird er entdeckt. Der treu ergebene Diener meines Vorfahren ist von diesem Ausflug nicht mehr zurückgekehrt.
Die Opferschale erregt bereits in Mexiko nicht nur allgemeines Aufsehen, sondern auch die Begehrlichkeit des zu dieser Zeit zu Besuch weilenden Päpstlichen Nuntius, der bereits ein Auge auf die damals vielbeachtete Lang’sche Kunstsammlung geworfen hat. Der Nuntius bietet meinem Vorfahren für die mexikanische Opferschale umgerechnet 25 000 Euro. Er möchte die seltene Kostbarkeit dem Museum des Vatikans einverleiben. Der selbstbewusste Kunstsammler Peter Josef Lang lehnt das Angebot ab.
Auf der Opferschale, die schließlich in den Besitz meines Urgroßvaters Franz Josef Lang kommt, der sie seiner Tochter Jula vererbt, liegt, davon ist meine Großmutter überzeugt, ein Fluch, der schuld an allen Schicksalsschlägen ist, die die Familie getroffen haben. Um das Unglück abzuwenden, gibt sie das Corpus Delicti einem Museum. Vor der größten Tragödie ihres Lebens, dem Tod ihrer Tochter, ihres Enkels und ihres Schwiegersohns, hat sie dieser entschlossene Versuch, dem Schicksal zu entgehen, nicht bewahrt.
*
Mein Kinderglaube ist wie der meiner Großmutter eine geheimnisvolle Mischung aus Aberglauben und Gottvertrauen. Geprägt durch eine von der fränkischen Mentalität bestimmte lebensfrohe Emotionalität, ist er von früh an auch von Schauern des Schreckens durchzogen. Da ist unsere Furcht vor Naturgewalten, da sind die Abdrücke von Händen, Füßen und anderen Körperteilen geheilter Gläubiger, die im »Käpelle«, der Wallfahrtskirche über Würzburg, an der Wand hängen und im Schein der Kerzen täuschend echt aussehen, da ist unsere gemeinsame Angst vor schwarzen Katzen, die von links nach rechts über den Weg laufen, und die Untätigkeit meiner Großmutter an jedem Freitag, den 13., um nur nichts falsch zu machen, selbst wenn sie mir inkonsequenterweise nicht erlaubt, an einem solchen Tag aus den gleichen Gründen die Schule zu schwänzen.
Das Herz meiner Großmutter ist groß. Es hat nicht nur Platz für den lieben Gott, sondern auch für seine Gegenspieler. Für sie ist der Glaube ein Geschenk des Himmels, und Weihrauch und Orgelmusik sind die Verpackung darum herum. Als Kind weiß ich noch nichts von der Tiefe ihres bedingungslosen Glaubens und der Kraft, die meine Großmutter gerade auch in schweren Zeiten daraus schöpft.
Natürlich gibt es in meiner von Geistern und Göttern durchschwirrten Kindheit auch freundliche Gestalten. Der heilige Antonius ist so eine und er ist der Lieblingsheilige meiner Großmutter, weil er nicht nur vor Gewitter schützt, sondern auch allen hilft, die etwas verloren haben. In beiden Funktionen ist dieser hilfreiche Heilige in unserem Haus unermüdlich im Einsatz. Sind die Schlüssel unauffindbar, hat meine Großmutter einen Brief verlegt oder ihre Enkelin die Notizen mit den Hausaufgaben verloren, dann zündet meine Großmutter eine Kerze für den Heiligen Antonius an, und irgendwann hat sich alles wieder eingefunden. Bei Gewitter brennt die Antonius-Kerze oft die
Weitere Kostenlose Bücher