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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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mit Modellen, Plänen und Zeichnungen, nach Berlin zurückzuholen. Bis die einzelnen Stücke schließlich wieder in den Architekturbüros rund um den Erdball landeten, dauerte es Jahre, denn sie musste die Transportkosten aus der eigenen Tasche bezahlen. Die Architekten hatten Verständnis dafür.
    Am Abend der Eröffnung glaubte sie noch, es wieder einmal geschafft zu haben. Alle Teilnehmer der Ausstellung waren nach Paris gekommen. Sechzig Architekten hatte sie begrüßt, beglückwünscht und gegen Mitternacht verabschiedet, bevor sie sich erschöpft in den bequemen Sitz des alten Volvos fallen ließ und erst wieder auf die Straße achtete, als der Abzweig »Paris Plage« vor ihr auftauchte.
    Sie fühlte sich zu dem Mann hinter dem Lenkrad hingezogen. Wenn sie jetzt nach rechts abbögen und zur Küste führen, das spürte sie, würden sie auf ein Abenteuer zusteuern. Zu mehr als einem Abenteuer, auch das machte sie sich in diesem Moment bewusst, war sie ohnedies nicht bereit. Ihr Leben war kompliziert genug. Ganz abgesehen davon, dass der Mann neben ihr, wie sich herausstellte, neunzehn Jahre jünger war als sie. Er hätte ihr Sohn sein können. Ihr gemeinsames Abenteuer nahm erst viele Jahre später seinen Lauf, nachdem sie Freunde geworden waren und er ihr immer wieder versichert hatte: »Dein Liebhaber möchte ich nicht sein, dazu kenne ich dich und deine Tricks viel zu gut.«

Fünfter Ort
    Das Gartenhaus am
     Friedrich-Ebert-Ring
    Der überstürzte Aufbruch meiner Großmutter Neckermann nach Würzburg, weg von Oberursel, liegt nicht an der Dominanz, die das Verhalten ihrer Schwiegertochter vom ersten Tag ihres Einzugs in die Baracke bestimmt. Meine Großmutter ist pragmatisch genug, um zu erkennen, dass in einem Haushalt mit sieben Kindern nur einer das Sagen haben kann. Diese Rolle macht sie Annemi nicht streitig. Es ist vielmehr das bereits erwähnte Zerwürfnis mit ihrem Sohn Josef, das sie zur Abreise veranlasst. Es geht um den Betrag von 100 000 Mark, den meine Großmutter ihrem Ältesten für eine »Zwischenfinanzierung« geliehen hat und den sie nun von ihm zurückerbittet. Necko lehnt ab, und meine Großmutter reist ab. Ihre Entscheidung, mich, die Jüngste, mit nach Würzburg zu nehmen, ist die glücklichste Fügung meines Lebens.
    Die Überlebensbeziehung zwischen meiner Großmutter Neckermann und mir beginnt bereits, als meine Eltern und mein Bruder noch am Leben sind. Sie gehört zu dem Kostbarsten, was mir je widerfahren ist. Nach dem Tod meiner Eltern nimmt diese Beziehung symbiotische Züge an. Ich rette meiner Großmutter das Leben in einem Moment, in dem es für sie jeden Sinn verloren hat, und sie hilft mir zu überleben, seelisch und körperlich.
    Ich habe ein Bild gemalt, ein naives Bild. Es ist bunt, weil naive Bilder bunt sind und meine Erinnerungen an diese Jahre auch, nur das kleine Haus ist weiß wie Schnee. Ein Steingarten mit Blumen ist zu sehen, die in allen Regenbogenfarben leuchten, und eine Terrasse mit einem rotblau gestreiften Sonnenschirm und weißen Gartenstühlen. Rechts auf dem Bild führt eine Treppe in den Garten. Das kleine Haus besteht aus zwei Zimmern, einem Wohnzimmer und einem Schlafzimmer, dazwischen befinden sich Küche und Bad. Der Wohnraum hat keine Fenster zum Garten, aber eine breite Terrassentür. Auf dem Bild ist meine Großmutter zu sehen, sie schaut aus dem Fenster des Schlafzimmers. Sie hat weiße Haare und trägt eine Rüschenbluse, und sie winkt mir zu. Das Mädchen in roten Hosen und blauem Pullover bin ich. Meine Großmutter und ich nehmen den rechten Teil des Bildes ein und stellen eine Einheit dar. Links im Bild steht die ehemalige Pfarrersköchin Käthe mit weißer Schürze, grauen Haaren und einem Tablett voller Zwiebelmuster-Geschirr.
    Das kleine Haus, das Walter Neckermann im hinteren Teil des Familienanwesens am Friedrich-Ebert-Ring direkt neben dem Kohlenlager für die Arbeiter der Kohlengroßhandlung hat errichten lassen, wird für meine Großmutter und mich umgebaut. Es ist mein erstes richtiges Zuhause, weil meine Großmutter mein Zuhause ist und weil es der erste Ort in meinem Leben ist, an den ich mich erinnern kann. Später will ich es nicht mehr. Ich will diesen Ort meiner Kindheit vergessen. Es ist einer der wenigen Momente in meinem Leben, in denen ich das Vergessen dem Erinnern vorziehe. Das Gartenhaus, unser Haus, wird Jahrzehnte später ebenso abgerissen wie das Wohnhaus meines Onkels Walter und seiner Familie im vorderen Teil

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