Wie ein Haus aus Karten
Großmutter, keine Garantie, aber sie hat keine Wahl.
Helmut, der mich für die Operation vorbereitet, erzielt bei dem Versuch, meine Hände zu waschen, nur einen Teilerfolg. Die Haut um das Nagelbett will einfach nicht sauber werden, sie bleibt trotz Seife und Bürste dunkel. Der Professor, dem das nicht entgeht, weist seinen Assistenzarzt zurecht. Helmut entschuldigt sich mit den Worten: »Ich habe alles versucht. Die dunklen Stellen um die Nägel sind Erbdreck.« Der Professor gibt sich zufrieden. Meine Großmutter hat mir das später erzählt und bei passender Gelegenheit schmunzelnd bemerkt: »Rede dich nicht mit Erbdreck heraus!«
Gegen die Proteste der Krankenschwestern erreicht sie, dass sie zusammen in einem Zimmer mit mir schlafen kann. Praktisch, wie sie ist, verspricht sie dem Professor als Dank für dieses damals ungewöhnliche Entgegenkommen, seine Familie den ganzen Winter kostenlos mit Kohle zu versorgen. Schließlich ist sie Inhaberin einer Kohlengroßhandlung. Meine Pflege übernimmt meine Großmutter selbst. Der breite Verband, der täglich gewechselt werden muss, reicht von den Achselhöhlen bis zum Gesäß und ähnelt den Bandagen meines ersten Lebensjahres. Ich darf mich nicht bewegen, bis der Schnitt, der um die halbe Taille reicht, verheilt ist. Eine Episode aus dieser Zeit macht deutlich, dass das bereits totgesagte Kind nicht nur zum Leben, sondern auch zu seinem Selbstvertrauen zurückgefunden hat. Auf die Frage der Großmutter, ob sie mir ein Märchen vorlesen solle, antworte ich: »Was glaubst du denn, wofür ich dich ins Krankenhaus mitgenommen habe?«
Auch in unserem Gartenhaus teilen sich meine Großmutter und ich ein Schlafzimmer. Die Betten stehen hintereinander. Gegenüber ist ein Einbauschrank installiert, daneben ein halbhohes Bücherregal, in dem nur wenige Bücher stehen. Ich habe kein eigenes Kinderzimmer und kaum Spielsachen, aber ich besitze etwas, das kein anderes Kind, das ich kenne, hat: ein eigenes Telefon. Mein damaliger Sandkastenfreund, Rudi, mit dem mich noch heute eine tiefe Freundschaft verbindet, hat es von der Wohnung seiner Eltern im Nachbarhaus auf der anderen Straßenseite bis zu meinem Bett gelegt. Sein Vater, der in der Chefetage der Würzburger Siemens-Niederlassung arbeitet, fördert das technische Interesse seines Sohnes. Er stellt das erforderliche Material zur Verfügung. Unser Telefon, durch das wir uns jeden Abend »gute Nacht« sagen und mit dessen Hilfe Rudi mich jeden Morgen vor der Schule aus dem Schlaf holt, noch ehe meine Großmutter mit ihrem täglichen Weckritual beginnt, gehört zu den Besonderheiten meiner Kindheit.
Der allmorgendliche Spruch meiner Großmutter »Aufgewacht/an Gott gedacht/einen Sprung gemacht/und raus« kommt in Erinnerung an diese Zeit noch heute manchmal zum Einsatz, allerdings mit kleineren Abwandlungen. An meinem Bett sitzend, streicht sie jeden Morgen mehrmals über meinen Nasenrücken in der Hoffnung, meiner ausgeprägten Stupsnase zu einer edleren Form zu verhelfen, bevor sie mir mit dem Daumen fast unmerklich ein kleines Kreuz auf die Stirn zeichnet. Vorübergehend wird dieses Ritual um das Eincremen mit »Schwanenweiß« erweitert, einer Salbe, die laut Beipackzettel nach mehrwöchigem regelmäßigem Gebrauch das Verblassen der Sommersprossen garantiert, die zu meinem großen Kummer mein Gesicht übersäen wie Sterne den nächtlichen Himmel. Als bekannt wird, dass von der Creme nicht nur die Sommersprossen verblassen, sondern auch die Zähne ausfallen, wird dieser morgendliche Programmpunkt gestrichen. Inzwischen halte ich es für möglich, dass meine Großmutter die Geschichte vom Zahnausfall nur erfunden hat. So ist sie eben.
Einmal erzählt sie mir auch von der mexikanischen Opferschale, die der Familie Unglück gebracht habe. Die Geschichte, die der Sohn eines abenteuerlichen Vorfahren aus der großmütterlichen Linie niederschreibt, beginnt, als dessen Vater, Peter Josef Lang, nach Mexiko auswandert. Er ist der einzige Sohn des Postmeisters zu Worms und Erziehers des Prinzen von Thurn und Taxis. Mit dieser Entscheidung will der junge Mann den unliebsamen Folgen einer gelösten Verlobung entgehen, ohne zu ahnen, in welche neuerlichen Abenteuer er sich damit stürzt.
Inzwischen zum Kaufmann ausgebildet, tritt Peter Josef Lang im Alter von dreiundzwanzig Jahren eine Stellung als Leiter der Filiale der Westindischen Handelsgesellschaft in Veracruz an, nachdem er als einer der wenigen Überlebenden des auf der
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