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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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ganze Nacht. Die Fenster sind fest verschlossen, die Vorhänge zugezogen. Ich kann nicht herausfinden, was meine Großmutter so ängstigt. Nur eines ist gewiss: Wenn sie Angst hat, habe ich sie auch.
    Das einzige Verbot, das meine Großmutter mir gegenüber jemals ausgesprochen hat, lautet, dass ich bei Gewitter nicht baden darf. Sie erzählt, so als hätte sie es selbst erlebt, von einem Kugelblitz, der durchs offene Fenster in die Badewanne geschossen sei und ein Kind getötet habe. Unsere gemeinsame Angst hat auch ihre guten Seiten. Meine Großmutter und ich rücken noch enger zusammen und halten einander im Arm, während draußen das Unwetter tobt. In solchen Momenten bin ich ihre Beschützerin.
    An Allerheiligen geht meine Großmutter mit mir auf den Friedhof. In den ersten Jahren nimmt sie mich an der Hand, später fahre ich sie im Rollstuhl. Meist ist es um diese Jahreszeit wolkenverhangen und feuchtkalt. Vor dem Portal des Würzburger Hauptfriedhofs herrscht Volksfeststimmung. Der Tod ist kein Grund zur Traurigkeit. Die Verwandten schmücken die Gräber wie zu einem Familienfest, einem Fest für Lebende und Tote. Die Verkaufsstände mit Kerzen, Blumen, Devotionalien, Glühwein und Nürnberger Rostbratwürstchen stehen jedes Jahr wieder an derselben Stelle, und meine Großmutter und ich nehmen jedes Jahr denselben Weg an ihnen entlang.
    Bei »Kerzen Schenk« bedient die Inhaberin. Alle Jahre wieder stellt sie anerkennend fest, so als wäre das mein Verdienst, wie groß ich geworden sei. Dieser Kommentar ist unvermeidlich, selbst wenn ich meinen Hals einem Schwan gleich nach vorn recke in der Hoffnung, dadurch ein wenig kleiner zu wirken. Ich bin für mein Alter zu groß und fühle mich nicht wohl in meiner Haut. Die Kerzenverkäuferin ist für jedes Alter zu dick, aber sie scheint kein Problem damit zu haben. Sie trägt eine graue, wetterfeste wattierte Jacke und einen grauen Wollrock, unter dem gefütterte Gummistiefel hervorschauen. Einen dunklen Wollschal mit Blumenmuster hat Frau Schenk um den Kopf geschlungen, die Nase ist rot, und meist hängt ein Tropfen an der Spitze. Ich kann mich beim Auswählen der Kerzen und Grablichter kaum konzentrieren, weil ich darauf warte, dass er herunterfällt.
    Es riecht nach Honig und mir unbekannten, exotischen Gewürzen. Der schwere, süße Duft der brennenden Kerzen, mit dem Frau Schenk die Kunden an ihren Stand lockt wie die Hexe Hänsel und Gretel in ihr Lebkuchenhaus, ist in meiner Erinnerung untrennbar mit Allerheiligen verbunden. Manche Kerzen haben Gravuren, die mich erschrecken. Der wächserne Körper Christi etwa ist so fein modelliert, dass sein offengelegtes Herz und die Wundmale an Händen und Füßen zu erkennen sind.
    Mir fällt es damals schwer, die biblischen Geschichten und die Wirklichkeit auseinanderzuhalten, da zu dieser Zeit im oberpfälzischen Konnersreuth eine Bauernmagd namens Therese Neumann, Resi von Konnersreuth genannt, mit den blutenden Wundmalen des Gekreuzigten an Händen und Füßen auch im katholischen Würzburg von sich reden macht. Die lebende, aber stigmatisierte Resi von Konnersreuth verfolgt mich in meinen Träumen ebenso wie der wächserne Christus mit der offenen Brust, die den Blick auf ein rotes Herz frei gibt.
    Es geht aber nicht nur um sein Herz, es geht auch um meines, und das ist anscheinend bewohnt. »Ich bin klein/mein Herz ist rein/soll niemand drin wohnen/als Du mein liebes Jesulein«, bete ich als Kind jeden Abend vor dem Schlafengehen. Nach der Begegnung mit dem Wachschristus, der trotz des chirurgischen Eingriffs lächelt und segnend eine Hand hebt, möchte ich mein Herz wieder für mich allein haben und entscheide mich für das weniger gefährliche Nachtgebet: »Müde bin ich, geh zur Ruh.«
    Beladen mit Grablichtern und Blumengebinden aus Tannenzweigen und gelben Astern, gehen meine Großmutter und ich zuerst zum Grab meines Großvaters. Ich habe viele kleine, rote Friedhofslichtchen dabei und ein paar große Fackeln. Großvater Neckermanns Grab liegt im alten Teil des Würzburger Hauptfriedhofs. Durch unsere regelmäßigen Besuche an den Anblick gewöhnt, erschrecke ich nicht mehr vor der steinernen, halb geöffneten Pforte, die auf einem Grab gleich am Eingang des Friedhofs direkt zu den Toten zu führen scheint, auch nicht vor der lebensgroßen, leicht gebückten Engelsgestalt aus Marmor, die eine steinerne Rose in Händen hält, so als wollte sie diese gerade auf das Grab legen. Die Jahreszahlen auf der

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