Wie ein Haus aus Karten
des Grundstücks. Selbst die überlebensgroßen steinernen Löwen, die das Firmenwappen der Sektkellerei meines Urgroßvaters majestätisch einrahmen, können die Eindringlinge nicht aufhalten, sie werden von den angreifenden Bulldozern in tausend Stücke gerissen.
Das parkähnliche Anwesen mit dem alten Baumbestand und der jahrhundertealten Eiche, den Pfingstrosenbüschen, dem schmiedeeisernen Pavillon, dem runden Schwimmbecken aus Granit, der Schiffschaukel und dem Gewächshaus mit exotischen Pflanzen gibt es nicht mehr. Mein Pflegevater Josef und sein Bruder Walter haben das Grundstück meiner Großmutter, das seit Generationen in Familienbesitz ist und es nach ihrem letzten Willen als Treffpunkt der weitverzweigten Familie auch bleiben soll, Ende der 90er Jahre an eine Immobilienfirma verkauft. Heute stehen anonyme Hochhäuser darauf.
Als Großmutter Neckermann Ende 1949 nach Würzburg zieht, um dort mit mir ein neues Leben zu beginnen, nimmt sie nichts mit, was sie an die Vergangenheit hätte erinnern können. Entsprechend bescheiden ist unser neues Zuhause eingerichtet, wie ein Gartenhaus eben. Das Einzige, was meine Großmutter aus ihrem alten Leben behalten hat, ist ein Spiegel, der noch von ihrem Vater Franz Josef stammt. Er hängt an einer ursprünglich goldenen, mit den Jahren vergilbten Kordel, in deren Quasten sich Spinnen eingenistet haben. Da der Tisch, über dem der Spiegel in unserem Wohnzimmer angebracht ist, mit seiner Schmalseite an der Wand steht, sitze ich dem Spiegel genau gegenüber. Die beiden langen Seiten des Tisches sind meiner Großmutter und der ehemaligen Pfarrersköchin Käthe vorbehalten, die ihre Arbeit als Haushälterin bei einer alten Frau und einem kleinen Mädchen als Zwischenstation auf dem Weg zur nächsten Pfarrei betrachtet.
Der Spiegel ist nicht größer als ein Handtuch. Er ist von einem mit Ornamenten geschmückten goldenen Rahmen eingefasst, der von einem ebenfalls goldenen Vogel gekrönt wird. Dessen Schwingen sind ausgebreitet, so als wartete er nur darauf davonzufliegen. Den schmalen Kopf zeigt er im Profil, weswegen der Schnabel, von meinem Platz aus betrachtet, besonders spitz und gefährlich aussieht. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, während die Pfarrersköchin das Tischgebet spricht und jedes Mal wieder erfolglos den Herrn Jesus als unseren Gast einlädt, abwechselnd den Spiegel und dann mich selbst im Spiegel zu betrachten. Ich kann nicht verstehen, dass der Spiegel nie ein vollständiges Bild von mir wiedergibt. »Das sind die blinden Flecken«, sagt meine Großmutter, »das kommt vom Alter.« Der ganze Spiegel ist mit diesen matten, milchigen Flecken überzogen, die sich im Laufe der Jahre noch vermehren. Sie lassen das Spiegelbild in ein Puzzle zerfallen, bei dem einige Teile verlorengegangen sind. Meine Erinnerung ist wie der Spiegel mit den blinden Flecken. Später begreife ich, dass der Ausdruck »blinde Flecken« nicht nur das meint, was man nicht sieht, sondern auch das, was man nicht sehen will.
Die Entscheidung meiner Großmutter, ausgerechnet mich mit sich zu nehmen, hat ihre Wurzel nicht nur darin, dass sie sich mit ihrem jüngsten Enkelkind identifiziert, das im gleichen Alter Vollwaise wird, in dem sie selber die Mutter verloren hat. Was noch hinzu kommt: Die Enkelin ist krank, und es ist der Großmutter bewusst, dass diese Krankheit jeden Tag wieder ausbrechen kann. Bereits Anfang 1947 treten die ersten Symptome auf. Meine Eltern sind damals sehr besorgt um ihre Jüngste. Meine Mutter schreibt an ihren Sohn Mockel ins Internat: »Ich war sehr müde und wollte schlafen gehen, da bekam Tini solche Leibschmerzen, dass sie weinte und sich krümmte. Nichts half. Es ging fast die ganze Nacht. Sie ist am Ende ihrer Kräfte.« Ein Jahr lang werde ich von Klinik zu Klinik gebracht. Ohne Erfolg.
»Ihre Tochter wird das zehnte Jahr nicht überleben.« Diese wenig ermutigende Prognose stellen die Ärzte ohne genaue Diagnose noch zu Lebzeiten der Eltern. Auch meine Großmutter kennt sie, aber sie akzeptiert sie nicht. Ihre Enkelin will sie nicht auch noch verlieren. Kaum in Würzburg angekommen, sucht sie Professor Bundschuh auf. Er diagnostiziert eine eiternde Sackniere und veranlasst eine Notoperation, die er selbst durchführt. Mein Cousin Helmut Knab, inzwischen dort Assistenzarzt, übernimmt die Anästhesie. Die linke Niere wird entfernt, eine Ende der 40er Jahre bei einem kleinen Kind selten durchgeführte Operation. Es gibt, das weiß meine
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