Wie ein Haus aus Karten
Marmortafel daneben besagen, dass hier ein junges Mädchen bestattet ist. Sie ist noch keine zwanzig Jahre alt, als sie stirbt. Ihre Familie, die den monumentalen Grabstein mit dem steinernen Engel in Auftrag gegeben hat, muss nicht nur sehr traurig, sondern auch sehr wohlhabend gewesen sein.
Das Grab von Großvater Neckermann, in das ihm fünfunddreißig Jahre später seine Frau Jula folgen wird, hat auch eine Geschichte, aber die ist nicht traurig. Meine Großeltern, in jungen Jahren passionierte Hobbyarchäologen, haben bei einer Exkursion einen gewaltigen grau-schwarzen Findling entdeckt, ihn nach Würzburg transportieren lassen und als Grabstein für ihr Familiengrab bestimmt. Bei meinem ersten Friedhofsbesuch mit meiner Großmutter zu Allerheiligen, an den ich mich erinnere, bin ich acht Jahre alt. Der Stein wirkt mit seiner rauen Oberfläche, seinen Einbuchtungen und Vorsprüngen auf mich wie ein gewaltiger Felsen. Ich klettere unter den wachsamen Augen meiner Großmutter vorsichtig an ihm hoch und verteile die roten Lichter auf allen Vorsprüngen, die ich erreichen kann. Jedes Jahr erobere ich neue Einbuchtungen, je größer ich werde und je höher ich mich wage. Der Grabstein verwandelt sich an Allerheiligen in einen Berg voller rotzüngelnder, tanzender Flämmchen.
Der Monat Mai, wenn der Duft der Pfingstrosen bis in unser Schlafzimmer dringt, ist auch die Zeit des Maialtars. Ich hole den alten Fußschemel meiner Großmutter vom Dachboden, der uns einen Monat lang, mit einer Spitzendecke versehen, als Altar dient. Die Muttergottes, die wir auf den Maialtar stellen, ist aus Gips, etwa dreißig Zentimeter hoch und trägt einen hellblauen Umhang wie die Madonna von Lourdes. Die kleine Figur gewinnt für mich erheblich an Bedeutung, als mir meine Großmutter erlaubt, den Film »Das Lied der Bernadette« zu sehen. Als ich Jahrzehnte später Franz Werfels literarische Vorlage lese, bin ich schon etwas kritischer. Nicht so beim Film zum Buch. Er erzählt die Geschichte des Bauernmädchens Bernadette im südfranzösischen Ort Lourdes. Das Mädchen entdeckt die Muttergottes, die überdies zu ihr spricht, in einem brennenden Dornbusch. Niemand will ihm glauben. Am Ende der Geschichte stirbt es. Ich leide mit der so Beglückten wie Verkannten, und meine Tränen versiegen während der Dauer des Films nicht mehr.
Links und rechts von der kleinen Gipsmadonna mit der traurigen Geschichte stelle ich Kerzen auf. Aus dem Garten hole ich Pfingstrosen und Hortensien. Abends sitzen meine Großmutter und ich vor unserem Maialtar und singen »Meerstern, ich dich grüße, oh Maria hilf« und »Maria zu lieben ist allzeit mein Sinn/In Freuden und Leiden ihr Diener ich bin«. Ich singe laut und voller Inbrunst, meine Großmutter summt leise mit. Als ich Jahrzehnte später die Anfangszeilen der Marienlieder niederschreibe, kommen die Melodien wieder zu mir zurück. Ohne mir dessen bewusst zu sein, summe ich sie vor mich hin.
Der Mai ist auch der Monat, in dem ich, wenn es zu regnen beginnt, so schnell ich nur kann, ins Haus laufe. Unsere Pfarrersköchin Käthe ist sich sicher, dass man im Mairegen wächst. Und sie weiß, dass Mädchen im Mai, dem Monat der Muttergottes, nicht pfeifen dürfen. Sie sagt: »Wenn Mädchen pfeifen, weint die Madonna.« Beide Drohungen schränken meine Aktivitäten in diesem Monat, der für mich kein Wonnemonat ist, erheblich ein, denn erstens will ich nicht mehr wachsen, und zweitens möchte ich nicht, dass die Muttergottes meinetwegen traurig ist. Ich stelle das Pfeifen ein, bis ich es schließlich ganz verlerne.
Erste Zweifel, ob die katholische Religion die richtige für mich ist, kommen mir im Katechismusunterricht. Nicht das Auswendiglernen der katholischen Dogmen ist mein Problem, sondern das Glauben. Da gibt es auf die zweifellos essentielle Frage »Wozu sind wir auf Erden?« eine Antwort im Katechismus, die mich nicht befriedigt: »Wir sind auf Erden, um den Willen Gottes zu tun, um dadurch in den Himmel zu kommen.« Beides, der Wille Gottes und der Himmel, erscheinen mir wenig verlockend. Im Beichtstuhl, in dem ich kniend und kleinlaut diese vermutlich eher lässliche Sünde ordnungsgemäß bekenne, werden mir zur Buße sieben »Vater Unser« und sieben »Gegrüßet seist Du, Maria« auferlegt. Echtes Schuldbewusstsein stellt sich aber ebenso wenig ein wie Reue, zumal der murmelnde Singsang des Beichtvaters, den ich durch die durchlöcherte Holzwand zwischen uns nur schemenhaft erkennen
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