Wie ein reißender Strom: Roman (German Edition)
sich genommen, als er selbst noch ein Junge gewesen war, und sie litt mit ihm.
»Bubba.«
Die heisere Stimme rief ihn zum Sofa. Rasch eilte Jake an Ross’ Seite. Als ob alle ihr Bedürfnis nach Vertraulichkeit spürten, zogen sich die Übrigen stillschweigend außer Hörweite zurück. Jake kniete sich neben das Sofa. »Ja, Ross?«
»Danke.« Die Worte, die kaum zu hören waren, kamen von ganzem Herzen. In den smaragdgrünen Augen stand jetzt nicht nur Schmerz. Sie glänzten auch von Tränen der Dankbarkeit. »Wünschte, … ich hätte … ihn getötet.«
Jake lächelte schief. »Hört sich an, als hättest du bereits alle Hände voll zu tun gehabt.«
Ross versuchte zurückzulächeln, aber es war mehr eine schmerzverzogene Grimasse. »Tut mir leid wegen …«
Jake schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass du nicht mit mir kämpfen wolltest, Ross. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Wir haben dir ja einen ganz schönen Schock versetzt.«
»Banner … du wirst …«
»Ich liebe sie, Ross. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass das passieren würde, aber …«
»Tja, also«, er warf Lydia einen Blick zu, »manchmal passiert es tatsächlich einfach so.«
»Du hattest übrigens recht. Sie trägt mein Baby unter dem Herzen.« Die grünen Augen wurden sofort klar, füllten sich dann aber wieder mit Tränen. Hastig sprach Jake weiter. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie stolz ich bin, ein Kind zu bekommen, das von dir abstammt, Ross. Er wird etwas ganz Besonderes.«
Die Lippen des älteren Mannes zitterten, aber er lächelte. »Du und ich, hm? Da wird es wohl ein Teufelskerl werden.«
Jake lachte. »Das wird er wohl.«
»Heb … heb die frohe Botschaft für Lydia auf. Sie wird sie brauchen können.« Jakes Augen füllten sich jetzt ebenfalls mit Tränen. Er nickte. »Du bist … ein Prachtkerl geworden, Bubba«, sagte Ross.
Jake schloss die Augen, kniff sie fest zusammen, damit die Tränen nicht entweichen konnten. Als er sie wieder öffnete, sah er das Gesicht seines Freundes ganz verschwommen. »Erinnerst du dich daran, wie ich dir gesagt habe, dass ich noch nie einen Mann so sehr gemocht habe, außer vielleicht meinen Bruder?« Ross lächelte und bewegte leicht den Kopf in dem Versuch eines Nickens. »Das trifft immer noch zu. Ich werde dich teuflisch vermissen.«
Die beiden Männer gaben sich die Hand. Jahre der Freundschaft und des unaussprechlichen Verständnisses glitten an ihnen vorüber. »Pass auf Lydia auf und …«
»Das werde ich.«
»Auf Wiedersehen, mein Freund.«
»Auf Wiedersehen, Ross.«
»Lydia«, Micah sprach von der Tür aus, »der Arzt ist gerade gekommen. Und Jake, der Sheriff möchte dich sehen.«
Priscilla feilte ihren Nagel und formte ihn zu einer scharfen Spitze. Als Vorbereitung auf ihren Besucher hatte sie sich gebadet, parfümiert und gepudert. Ihr Negligé war ein Modell voller Rüschen in dem von ihr bevorzugten Lavendelton. Ihr Haar hatte sie locker, aber hoch auf ihrem Kopf aufgetürmt. Sie sah exquisit aus.
Ein verächtliches Lächeln verzog ihren Mund, und sie kniff listig die Augen zusammen. Wie besorgt sie noch vor wenigen Wochen um ihre Zukunft gewesen war. Jetzt deutete alles auf glänzende Jahre hin, die vor ihr lagen.
Wenn Grady Sheldon glaubte, er könne Osttexas lebendig verlassen, nachdem er Ross Coleman erschossen hatte, wie er es plante, dann war er ein größerer Narr, als sie gedacht hatte. Sie hatte sein Selbstvertrauen aufgebaut, seinem Stolz geschmeichelt und seinen Hass geschürt, bis er so fanatisch darauf versessen war, Ross Coleman zu töten wie ein Samuraikrieger auf einen Kampfeinsatz.
Priscilla hatte gehört, wie eindrucksvoll River Bend war. Im Vergleich zu vielen anderen im Staat war Coleman zwar kein Großgrundbesitzer, aber ohne Zweifel verfügte er über eine kleine Armee von Reitern, die nicht tatenlos danebenstehen und zusehen würden, wie er ermordet wurde. Und selbst wenn das nicht der Fall wäre, würde Jake Sheldon keinen Atemzug mehr machen lassen, nachdem er Ross getötet hatte.
Priscilla war sich sicher, dass ihr Partner nicht mehr lange auf dieser Welt weilen würde.
Und ihr Partner war er. Dessen hatte sie sich vergewissert, bevor er am Tag zuvor ihr Boudoir verlassen durfte. Mithilfe eines Rechtsanwalts, seit Jahren ein treuer Kunde, hatten sie einen Vertrag geschlossen. Grady war so macht- und lusttrunken, dass er gar nicht alle Klauseln gelesen hatte, die der Rechtsanwalt auf ihre Anweisung hin in das Dokument aufgenommen
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