Wie ein stummer Schrei
verriet ihm, dass dieser Fremde ihm ohne zu zögern das Genick brechen würde, wenn er sich ihm widersetzte. Es war ein verlockender Gedanke, weil er Dennis damit von seinem Elend erlösen würde.
Nur eine kleine Bewegung, die als Widerstand zu deuten war.
Komm schon, Dennis, tu wenigstens einmal in deinem Leben das Richtige.
Die höhnische Aufforderung erschien ihm so real wie der Mann, in dessen Griff er sich befand.
Eine Bewegung. Ein Aufbegehren, und dann würde er vor Gott treten.
Doch ihm fehlte der nötige Mut, und damit ging für Dennis Rawlins die Erkenntnis einher, dass sich seine größte Angst erfüllen würde. Sobald er seinem Schöpfer gegenübertrat, würde das Blut von Kindern an seinen Händen kleben. Und er würde eingestehen müssen, dass er zu feige war, das Richtige zu tun, wenn es hart auf hart kam.
Trey drückte den Mann mit dem Gesicht gegen die Wand und legte ihm Handschellen an, noch bevor sich der Sicherheitsdienst um ihn kümmern konnte. Als er ihn sich genauer ansah, erkannte er den Mann wieder, der vor dem kriminaltechnischen Labor mit einem Protestplakat umhergelaufen war.
“Halten Sie ihn fest!” wies er den Sicherheitsmann an und lief zurück zu Olivias Bett.
Obwohl Bettwäsche und Kleidung durchnässt waren, schlief Livvie immer noch fest und ahnte nicht, wie nah sie ein weiteres Mal dem Tod gekommen war.
Er berührte ihren Arm und lauschte auf den gleichmäßigen Herzschlag, den die Apparaturen neben ihrem Bett als leise Piepstöne hörbar machten. Alles war noch so wie kurz zuvor, ehe er in den Flur gelaufen war. Als er mit dem Handrücken über ihre Wange streichen wollte, merkte er, wie sehr er zitterte.
Zum zweiten Mal hätte er Livvie beinah verloren. Der bloße Gedanke bereitete ihm Übelkeit. Er strich ihr eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht, dann atmete er tief durch, um sich zu beruhigen.
Sie hatte den Mund leicht geöffnet, die Unterlippe war ein wenig angeschwollen. Kleinere Schrammen waren auf ihrer Wange zu sehen, außerdem ein größerer Kratzer auf ihrer Stirn. Livvie wirkte, als hätte sie sich einen Nahkampf mit einer Wildkatze geliefert und verloren.
Zugleich hatte sie noch nie schöner ausgesehen als in diesem Moment.
Er drückte ihr einen zarten Kuss auf die Wange, dann auf die Stirn. Von ihren Lippen war er nur ein paar Zentimeter entfernt, als er flüsterte: “Oh, Livvie … du ahnst gar nicht, was du in mir bewegst.” Wieder beugte er sich ein Stück weit vor, und diesmal berührte er ihren Mund, aber so hauchzart, dass es fast nicht zu spüren war. Als er sich aufrichtete, standen ihm Tränen in den Augen.
Während er zur Tür ging, zog er sein Mobiltelefon aus der Tasche und rief Chia Rodriguez an. Als sie sich meldete, hörte er ihrer Stimme an, dass sie verschlafen und wütend war.
“Ich hoffe, es ist etwas Wichtiges”, brummte sie.
“Chia, ich bin’s, Trey. Ich habe den Schützen.”
“Was soll das heißen, du hast ihn?” fragte sie und war sofort hellwach.
“Ich weiß nicht, wie er heißt, aber er liegt im Krankenhausflur und trägt meine Handschellen. Der Sicherheitsdienst bewacht ihn im Moment, aber es ist dein Fall, und ich dachte mir, du würdest ihn vielleicht gern selbst einkassieren.”
“Was ist denn passiert? Wie kannst du …?”
“Ich erkläre es dir, wenn du herkommst”, unterbrach er sie und beendete das Telefonat.
9. KAPITEL
A uf dem Weg zur Polizeiwache versuchte Dennis Rawlins zu beten, doch er fühlte sich leer. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte Gott nicht mehr hören. Was es zu bedeuten hatte, wusste er nicht mit Sicherheit, doch er erinnerte sich noch gut an seine Kindheit. Wenn seine Mutter wütend auf ihn war, sprach sie auch nicht mit ihm. Folglich mochte es gut sein, dass Gott auch wütend auf ihn war. Dennis konnte es ihm nicht verübeln. Seit Jahren hatte er mit seinem Leben nichts Vernünftiges angestellt, da war es gar kein Wunder, wenn Gott sich irgendwann von ihm abwenden würde.
Als man Dennis ins Gefängnis steckte, hatte er nichts zu sagen. Allein der Versuch, ihnen zu erklären, warum er Olivia Sealy töten wollte, bereitete ihm Kopfschmerzen. Er wusste, er würde von dem Bombenanschlag auf die Abtreibungsklinik nichts sagen. Dennis war besessen, aber er war kein Dummkopf.
Während er auf seinen Pflichtverteidiger wartete, saß in einem anderen Viertel der Stadt Foster Lawrence auf der Bettkante und fragte sich, was er als Nächstes tun sollte.
Vielleicht würde er nach
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