Wie ein stummer Schrei
wusste nicht, warum er und nicht ihr Großvater Wache bei ihr hielt, aber der Anblick rührte sie zu Tränen.
Eine Weile sah sie ihn einfach nur an, wie er dasaß, die Beine lang ausgestreckt. Der Stoff seiner Jeans lag eng um seine muskulösen Oberschenkel, und mit einem mal musste sie daran denken, wie es sich angefühlt hatte, wenn er diese Beine um ihre legte, wenn sie sich geliebt hatten. Sie erinnerte sich sehr lebhaft an diese Zeit, an das Kribbeln, das er bei ihr auslöste, wenn sie ihn nur betrachtete.
Doch das war inzwischen alles Jahre her. Jetzt saß er dicht neben ihrem Bett, aber die Distanz zwischen ihnen beiden hätte nicht größer sein können. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, als sie das Banana Split geteilt hatten. Sie fragte sich, wie viel Zeit seitdem wirklich vergangen sein mochte und wie lange sie geschlafen hatte. Wäre sie doch bloß bei ihm geblieben, anstatt nach Hause zurückzukehren. Dann hätte sie sich wohl nicht auf den Weg zu Anna gemacht und wäre nicht in dem Moment auf dem Freeway unterwegs gewesen, als jemand versuchte, sie umzubringen. Trey hatte gewollt, dass sie bei ihm blieb, doch sie war zurückgewichen, so wie sie es immer tat – und was hatte es ihr eingebracht?
Ihr Blick ruhte weiter auf Trey, und sie fragte sich, wie sehr sich der Junge, an den sie sich erinnerte, verändert hatte, seit er ein Mann war. Ob er sich wohl immer noch so wie früher zusammenrollte, wenn er im Bett lag und schlief? Ob er um Mitternacht immer noch gern ein Sandwich mit Erdnussbutter und sauren Gurken aß? Sie fragte sich auch, wie lange sein Hass auf sie wohl angehalten hatte, nachdem sie dem Wunsch ihres Großvaters nachgekommen war, sich nicht mehr mit ihm zu treffen. Sie war sich allerdings sicher, dass sie selbst sich viel länger dafür gehasst hatte.
Als sie einen leisen Seufzer ausstieß, verspürte sie Schmerzen. Sie biss sich auf die Unterlippe, ehe sie wieder nervös zu Trey sah und dabei bemerkte, dass er wach war und sie beobachtete.
Ihr Herz schlug prompt schneller, woraufhin sich die gleichmäßige Geräuschkulisse der Geräte neben ihrem Bett prompt veränderte. Trey setzte sich zu ihr auf die Bettkante.
“Ich bin hier, Baby”, sagte er leise. “Hast du Schmerzen? Soll ich eine Krankenschwester holen?”
Als er seine Hand an ihr Gesicht legte, ließ sie den Kopf dagegensinken und hielt ihre Tränen nicht zurück. “Du bist geblieben”, sagte sie.
Trey sah in ihren Augen, welche Frage sie ihm damit eigentlich stellen wollte, doch er war sich nicht sicher, ob sie für die Antwort bereit war.
“Ich musste wissen, ob es dir gut geht.”
“Gehört das zu deinem Job?”
Wieder ein Zögern, dann ein leises Seufzen. “Nein, Livvie. Es gehört nicht zu meinem Job.”
“Ist es zu spät?” fragte sie.
“Zu spät wofür, Honey?”
“Für uns.”
Treys Puls wurde schneller, gleichzeitig brach ihm der kalte Schweiß aus, da er daran denken musste, dass es um ein Haar für alles zu spät gewesen wäre. Auch wenn er sich wieder in eine Welt würde begeben müssen, in der er nicht erwünscht war, konnte er sich nicht dazu durchringen, nein zu sagen.
“Willst du denn, dass es ein ‘Uns’ gibt?” erwiderte er.
Sie nickte.
“Und dein Großvater?”
“Er wird dich auch mögen”, sagte sie und schloss die Augen. Es kostete sie zu viel Kraft, weiter wach zu bleiben. Da sie wusste, dass Trey bei ihr war, fühlte sie sich in Sicherheit.
Trey dachte über Olivias Worte nach und fragte sich, ob sie wirklich noch Gefühle für ihn hegte. Das würde nur die Zeit zeigen, und im Moment reichte es ihm vollauf, dass sie überlebt hatte.
Während sie wieder einschlief, überlegte er, ob und wie Dennis Rawlins in den Fall passte, an dem Trey arbeitete. Der Mann war sicher nicht alt genug, um vor fünfundzwanzig Jahren an einem Mord beteiligt gewesen zu sein.
Es ergab auch keinen Sinn, warum er Olivia hatte umbringen wollen, doch Trey beschlich das Gefühl, dass es mit Blick auf Rawlins auch keinen Sinn ergeben musste. Wenn er sich nicht täuschte, war dieser Mann nicht ganz bei Verstand. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein geistig Verwirrter in ein Verbrechen verwickelt wurde, mit dem er gar nichts zu tun hatte. Rawlins hatte für den Augenblick nur noch mehr Verwirrung in einen ohnehin schon undurchsichtigen Fall gebracht. Chia und ihr Partner David Sheets würden sich darum kümmern müssen, was mit Rawlins wirklich los war. Trey selbst hatte genug mit der
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