Wie ein stummer Schrei
ins Schlafzimmer die Kleidung vom Leib streifte.
Nachdem er geduscht hatte, zog er eine Jogginghose an, ging in die Küche und machte sich ein Sandwich mit Wurst und Käse, goss sich ein Glas Milch ein, während er eine Melodie summte. Dann schüttete er eine Handvoll Chips auf den Teller zum Sandwich und hielt abrupt inne, da es soeben sechs Uhr wurde und die Kuckucksuhr über dem Telefon sich meldete.
Unwillkürlich musste er lächeln, als der kleine Mann hinter der rechten Klappe auftauchte und vor einer ebenso kleinen Frau davonlief, die ihm nachstellte. Die Uhr hatte früher seiner Mutter gehört. Soweit er zurückdenken konnte, hatte er immer dieses kleine Schauspiel beobachtet. Diese vertraute Szene vermittelte ihm ein trügerisches Gefühl von Sicherheit, so als befinde sich seine Mutter im Nebenzimmer und würde jeden Moment auftauchen. In Wahrheit war sie schon seit Jahren tot. Als die Verfolgungsjagd vorüber war, trug er den Teller ins Wohnzimmer, wo er während der Abendnachrichten essen wollte.
Er griff nach der Fernbedienung, schaltete den Fernseher ein und lehnte sich genüsslich nach hinten. Nach dem zweiten Bissen wurde Olivia Sealys erwähnt. Schnell stellte er den Ton lauter, um ja kein Detail zu versäumen, wenn über den tödlichen Unfall berichtet wurde.
“…
am Nachmittag. Zeugenaussagen zufolge soll es sich beim Tatfahrzeug um einen älteren dunklen Van oder Geländewagen handeln. Der Fahrer soll ein Weißer sein, etwa fünfunddreißig bis vierzig Jahre alt, möglicherweise trug er eine weiße Baseballkappe. Wenn Sie Informationen zu diesem Verbrechen haben, setzen Sie sich bitte mit dem Dallas Police Department in Verbindung. Alle Anrufe werden vertraulich behandelt. Miss Sealy befindet sich weiterhin im Dallas Memorial, ihr Zustand wird als ernst, aber stabil bezeichnet.”
Dennis verschluckte sich vor Schreck und begann zu husten.
Sie war nicht tot? Wie zum Teufel konnte das sein? Er hatte aus nächster Nähe auf sie geschossen. Er hatte das ganze Magazin geleert, und er hatte gesehen, wie der Wagen die Leitplanke durchbrach und sich überschlug.
Und trotzdem war sie nicht tot?
Was hatte das zu bedeuten?
Er sah auf sein Essen und stellte den Teller zur Seite. Ihm wurde übel, seine Hände zitterten.
“Oh Herr … ich habe es doch versucht”, flüsterte er, ging dann auf die Knie und betete.
Als er die Augen schloss, sah er wieder die toten Kinder, die auf dem Rasen verstreut lagen und deren verdrehte, blutige Leiber ihn an sein Versagen erinnerten.
“Ich habe es versucht”, wiederholte er. “Oh Gott, vergib mir.” Er stöhnte und beugte sich vor, bis sein Gesicht den Boden berührte, während er weiter den Gott anbetete, der in seinem Kopf lebte. “Gib mir noch eine Chance, Herr. Diesmal werde ich alles richtig machen, ich verspreche es dir.”
Entweder wollte Gott nicht mit ihm reden, oder er war einfach nicht zu Hause, denn Dennis hörte nichts weiter als sein eigenes Schluchzen. Er konnte nur wieder die Augen schließen und weiter beten, damit er von seinen Sünden reingewaschen wurde.
Es war nach Mitternacht, als Trey den Korridor betrat. Er musste dafür nicht auf die Uhr sehen, ein Blick zu den Schwestern genügte, um zu wissen, dass die Nachtschicht ihren Dienst angetreten hatte. Für eine Weile blieb ihm nichts anderes übrig, als Olivias Zimmer zu verlassen, damit ihre Verbände gewechselt und ihr Zustand kontrolliert werden konnte.
Nur wenige Schritte hinter der Tür bleib er stehen. Mehr Abstand wollte er nicht zwischen Olivia und sich kommen lassen. Einmal pro Stunde rief Marcus an, um sich nach seiner Enkelin zu erkundigen. Der alte Mann tat ihm Leid, fühlte er sich doch offenbar hin und her gerissen zwischen der Sorge um Olivia und der Sorge um eine Frau, die sichtlich Schwierigkeiten hatte, sich um sich selbst zu kümmern.
Trey fühlte mit dem Mann mit, doch insgeheim war er froh darüber, mit Olivia allein sein zu können. Immer wieder wachte sie kurz auf, aber es reichte nie, um zu verstehen, was um sie herum vorging. Doch dieser gelegentliche Blick in ihre blauen Augen und das Wissen, dass ihr Zustand stabil war und sich allmählich verbesserte, genügte ihm bereits.
Bei den Schwestern hatte er sich beliebt gemacht, seit die wussten, dass er und Olivia in ihrer Jugend ein Paar gewesen waren. Seitdem war es ihm gestattet, den Pausenraum der Krankenschwestern zu benutzen. Worauf er bislang aber vergeblich wartete, war die Mitteilung, der Schütze
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