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Wie es uns gefällt

Wie es uns gefällt

Titel: Wie es uns gefällt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Ackroyd
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schlief.
     
     
    «Und ob gefloh’n das Mädchen auch in Eil’, es sucht und trifft mit kühner Hand sein Pfeil. Doch nicht auf Beute sinnt der Jäger mehr, gezähmt das scheue Wild, der Köcher leer. Er löst der Tugend Kranz mit zartem Kosen Wie Zephyrs Hauch die duftend weißen Rosen.»
    Er stellte die Lampe ab. «Das klingt doch ganz nach Shakespeare, finden Sie nicht auch?»
    «Wer da?», rief sein Vater vom oberen Stock herunter.
    «Bin nur ich, Vater. Ich lese.»
    «Lösch ja die Lampe aus.»
    «Selbstverständlich, Vater.» Er wartete kurz mit geschlossenen Augen, als wollte er Mary die darin aufblitzende Wut nicht sehen lassen. «Nun, wirkt das auf Sie wie ein echter Shakespeare?»
    «O ja, daran besteht kein Zweifel.» Sie hatte nur einen Wunsch: seine Begeisterung zu verstärken und in seiner Hochstimmung aufzugehen. Dadurch könnte sie vielleicht ihrem eigenen Leben entfliehen.
    «Ihm habe ich bisher noch nichts davon gesagt.» Er deutete mit dem Kopf nach oben. Damit war klar, wer gemeint war. «Er würde den ganzen Ruhm für sich beanspruchen. Angenommen, ich würde einen Artikel über diese Entdeckung schreiben und Ihrem Bruder geben; könnte er für eine Veröffentlichung sorgen? Was meinen Sie?»
    «Natürlich könnte er das. Charles wäre davon begeistert. Es wäre ihm eine Ehre.»
    «Würden Sie ihm mit einem schönen Gruß von mir ausrichten, dass ich bereits mit dem Artikel begonnen habe? In einer Woche werde ich den Essay vorlegen.»
    Plötzlich schien ihm bewusst zu werden, in welch schwieriger Situation sie sich befanden – zu zweit allein in seiner Schlafkammer.
    «Miss Lamb, ich glaube, ich sollte Sie nach Hause begleiten.» Seine Stimme klang sehr tief und fest. «Hoffentlich habe ich Sie nicht in irgendeiner Weise beleidigt.»
    «Ganz und gar nicht, Mr Ireland. Ich fürchte, ich habe mich Ihnen aufgedrängt und Ihre Gastfreundschaft ausgenutzt.»
    «Die Nacht und der Wind sind uns zu Kopf gestiegen. Wir werden uns möglichst leise entfernen.»
    Mit diesem Satz brachte er sie in die Holborn Passage hinaus. Anschließend ging er mit ihr in die Laystall Street und wich bis zur Haustüre nicht von ihrer Seite. Dort drehte sie sich lächelnd um.
    «Es war ein bemerkenswerter Abend.»
    «Für mich auch.»
     
     
    Als sie eintrat, stand Charles mit verstrubbelten Haaren in der Diele. «Mary, wo bist du gewesen? Ich habe dich überall auf der Straße gesucht.»
    «Ich habe Shakespeare gelauscht.»
    «Ich verstehe dich nicht.»
    «William Ireland hat ein Gedicht gefunden. Ich habe es eben gehört.»
    «Er hat es dir auf der Straße vorgelesen?»
    «Nein, ich bin mit ihm in die Buchhandlung gegangen.»
    «Mitten in der Nacht? Hast du den Verstand verloren?»
    Sie betrachtete ihn einen Augenblick wie einen Fremden, als bestünde zwischen ihm und ihr keinerlei Verbindung. «Was willst du damit andeuten? Was hätte mir schon zustoßen können?»
    «Mary, hier geht es nicht darum, ob dir etwas zustößt.»
    «Worum dann? Um Anstand? Um Schicklichkeit? Vertraust du mir so wenig, dass du mir Verhaltensregeln auferlegen möchtest?»
    «Ich weiß, Ireland ist ein ehrenwerter – »
    «Aber deine Schwester kennst du nicht. Du siehst in diesem Haus lediglich eine Schlafwandlerin. Ich habe hier kein echtes – kein wahres – Leben. Warum sehne ich mich wohl jeden Abend so sehr danach, dass du heimkommst? Was glaubst du? Natürlich nur, wenn du nicht wieder elendiglich betrunken bist.» Charles sagte nichts. «Wen sehe ich denn schon? Mit wem unterhalte ich mich? Was heißt hier Anstand? Dass man mir die Luft abschnürt? Welche Konvention schreibt vor, dass ich bereits zu Lebzeiten begraben werde?»
    «Pst, Mary, du weckst sie noch auf.»
    Sie wurde noch lauter. «Die werden nie aufwachen! Ich sterbe hier.»
    Er packte sie am Arm und zerrte sie schnell nach oben in sein Zimmer. «Mary, willst du vielleicht, dass dich die ganze Welt hört?»
    Erschöpft setzte sie sich auf sein Bett. «Mr Ireland hat mir seine jüngste Entdeckung vorgelesen. Ich habe zugehört. Das ist alles. Dann hat er mich wieder hierher gebracht. An der Haustür haben wir uns verabschiedet. Er ist ein Ehrenmann, wie du gesagt hast. Allerdings habe ich ihm etwas versprochen.»
    «Und das wäre?»
    «Du würdest dafür sorgen, dass sein Essay veröffentlicht wird.»
    «Wirklich, ich verstehe kein einziges Wort. Welcher Essay?» Es hatte ihn verwirrt, dass seine Schwester offen ihre Wut und ihre Seelenqual zeigte. Unter diesen Umständen

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