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Wie es uns gefällt

Wie es uns gefällt

Titel: Wie es uns gefällt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Ackroyd
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Lamb?»
    Einen Augenblick erkannte sie ihn nicht wieder. «Oh, Mr Ireland. Tut mir leid, ich habe Sie erschreckt.»
    «Ganz und gar nicht. Niemand ist zu Schaden gekommen.» Stumm sahen sie einander an. «Ist alles in Ordnung?»
    «In Ordnung? Es gibt keine Ordnung.» Vor Schreck und Verlegenheit wusste sie nicht, was sie sagte. «Möchten Sie mich ein Stück begleiten?»
    «Gern.»
    Sie spazierten zusammen die Straße entlang. Ireland ging ein bisschen voraus, als würde er sie lenken. Nun lachte sie laut. «Wahrscheinlich sehe ich wie eine zügellose Frau aus, so ganz ohne Schultertuch und mit offenen Haaren.»
    «O nein, überhaupt nicht.»
    Stumm gingen sie weiter. Allmählich fasste sie sich wieder und meinte schließlich: «Ich schaue gern dem Wind zu, wie er sich mit Wucht zusammenballt. Sehen Sie, wie er sich dort drüben auf den Fenstern kräuselt?»
    Dunkelheit hüllte die Stadt ein. In ihrem Schutz fühlte sie sich sicher. Die aschgraue Luft tröstete sie.
    «Mr Ireland, Sie lieben London auch.»
    «Woraus schließen Sie das?»
    «Nun ja, Sie haben die Stadt überlebt.»
    «Ich habe überlebt.»
    «Außerdem gehen Sie nachts spazieren.»
    «Ich kann nicht schlafen. Ich bin zu aufgeregt.»
    «Darf ich fragen, warum?»
    «Eigentlich wollte ich Sie morgen mit meiner Entdeckung besuchen. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt – »
    «Dafür ist immer Zeit.»
    «Ich kann die Sache ganz einfach schildern.» Genüsslich reckte er sein Gesicht in den Wind. «Ich habe ein Gedicht von Shakespeare gefunden. Ein neues Gedicht, das noch niemand gesehen oder gelesen hat.»
    «Ist das möglich?»
    «Alles ist möglich, Miss Lamb. Ich habe es erst letzte Nacht unter den Papieren entdeckt.»
    «Ich würde es gerne sehen. Sofort.»
    «Wirklich?»
    «O ja.» Hier bot sich ihr ein Zufluchtsort aus ihrer Seelenqual. Das Eintauchen in eine andere Zeit, und sei es noch so kurz, lieferte ihr den Beweis, dass sie sich nicht einsperren oder einschränken lassen musste. Vielleicht war sie deshalb in die Nacht hinausgerannt.
    «Ich trage es nicht bei mir.» Er klang fast entschuldigend. «Es liegt zu Hause.»
    «Könnten wir hingehen? Bitte.»
    «Es ist spät, aber wenn Sie keinen Anstoß daran nehmen – »
    «Nicht den mindesten.»
    Und so machten sie sich auf den kurzen Weg zur Holborn Passage. «Erst nach sorgfältiger Prüfung war mir klar, worum es sich handelte. Das Gedicht stand auf einem Fetzen Schreibpapier, den man aus einem größeren Bogen gerissen hatte.» Inzwischen redete William sehr schnell. «Die Schrift ist winzig. Anfänglich habe ich sie nicht einmal wiedererkannt. Wissen Sie, das Gedicht war nicht in Versform notiert, sondern in Langzeilen. Um Platz zu sparen. Dann bemerkte ich das eigenwillige ‹s›. Jetzt fiel mir wieder ein, wo ich diesen Buchstaben schon einmal gesehen hatte. Natürlich – es war seine Handschrift. Kein Zweifel.»
    «Und worum geht es in diesem Gedicht?»
    «Es ist ein kurzes Sonett, wie es Verliebte austauschen. Bitte, warten Sie einen Augenblick, Miss Lamb.» Sie waren an der Buchhandlung angekommen, die im Dunkeln lag. Er sperrte die Tür auf und kam kurz danach mit einer Lampe wieder.
    «Wir treffen uns bei Lampenschein», flüsterte sie.
    «In der Tat. Es ist ein Abenteuer.» Trotzdem wirkte er im matten Lichtkreis ängstlich und verwirrt. «Mein Zimmer liegt im zweiten Stock. Bitte, ganz leise. Mein Vater schläft über mir.» Er ging voraus über die Holztreppe, durchs Esszimmer und noch ein Stockwerk höher. Es war ein altes Haus mit schiefen Böden und krummen Balken, ein Haus wie ein hölzernes Instrument. Mit zweierlei Schlüsseln sperrte er die Tür zu seinem Zimmer auf. Als er die Lampe absetzte, bemerkte sie, dass die Wände mit Kupferstichen bedeckt waren. Hier waren die Köpfe von Shakespeare, Milton, Spenser, Tasso, Vergil und Dante versammelt.
    «Wer ist das?»
    «Das ist John Dryden, der Vater der englischen Prosa.»
    «Eine mächtige Stellung.»
    «Jedenfalls behauptet das mein Vater. Bitte, Miss Lamb, nehmen Sie Platz. Leider ist es hier sehr eng.» Vorsichtig holte er ein Stück Schreibpapier aus einer Schublade. Jetzt fiel ihr auf, dass in dem kleinen Zimmer mehrere Kisten und Truhen herumstanden und fast den ganzen freien Fußboden belegten. Auf eine davon setzte sie sich, während er mit gedämpfter Stimme aus dem Manuskript zu lesen begann. Die Lampe beleuchtete das Papier. Ihr war sehr wohl bewusst, dass Mr Ireland in der Kammer über ihren Köpfen

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