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Wie es uns gefällt

Wie es uns gefällt

Titel: Wie es uns gefällt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Ackroyd
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‹Krämpfen› gelitten. Leider habe ich keine Ahnung, was das sein soll.»
    «Hast du schon mal einen Krampf gehabt, Ben? Haaatschi!» Tom trank Stingo und nieste geradewegs auf seinen Ärmel.
    Benjamin klopfte ihm auf den Rücken. «Gesundheit, mein Bester. Also wirklich, Charles, ich muss mich schon wundern. Du erinnerst dich doch sicher noch an die Stelle im Lear, wo es um ‹den Krampf› geht. Dabei handelt es sich um ‹Hysterica passio›. Wenn man sich in etwas hineinsteigert, krampfen sich die Innereien zusammen und drücken nach oben und schnüren einem das Herz ab.»
    «Meine Mutter hat auch Krämpfe. Sie ist immer ganz hysterisch.» Tom trank seinen Krug leer und hob den Arm zum Zeichen, dass er Nachschub haben wollte. «Sie schreit schon beim kleinsten Pieks.»
    «Heftige Gemütsbewegungen bringen die Körpersäfte in Wallung.» Benjamin wollte unbedingt weiter seine vom Alkohol benebelten Gedankengänge verfolgen. «Dann steigen die unteren Säfte ins Gehirn. Und das nennt man dann Hysterie.»
    Charles musste an seine Schwester denken.
    Vor einer Woche hatte Mary in der Küche für das Abendessen Nierchen vorbereitet. Ihre Mutter hatte danebengesessen und gemeint: «Mir ist schleierhaft, warum manche Leute ihre Nieren unbedingt mit Cayennepfeffer bestreuen und auf dem Rost braten müssen. Was spricht eigentlich gegen Schmoren?»
    In dem Moment schrie Mary vor Schmerz auf. Sie hatte sich in den Daumen geschnitten. Blut tropfte auf das hölzerne Schneidebrett. Charles hatte ihr gelangweilt und ziemlich desinteressiert beim Zurichten der Innereien zugesehen. Er hätte schwören können, dass sie sich bewusst verletzt hatte. Ihre Hand mit dem Messer war ganz ruhig von den Nierchen zum Daumen gewandert.
    Als Mrs Lamb das Blut sah, stieß sie einen spitzen Schrei aus, schoss vom Stuhl hoch und wollte nach der Hand ihrer Tochter greifen, aber Mary drehte ihr einfach den Rücken zu. In einer Schublade fand sie einen Leinenfetzen, den sie sich schnell um den Daumen wickelte. Dann sah sie Charles an. Er glaubte, etwas Triumphierendes in ihrem Blick zu entdecken.
    Am selben Abend kam sie später mit der Ausrede zu ihm ins Zimmer, er müsse ihr eine schwierige Stelle bei Lukrez übersetzen. Sie setzte sich ans Fußende seines Bettes. «Weißt du, Charles, ich muss unbedingt aus diesem Haus fort.»
    «Warum, Schwesterherz?»
    «Siehst du das denn nicht? Es bringt mich um.» Er war verblüfft. Als sie das merkte, brach sie in Tränen aus. Er beugte sich zu ihr, allerdings ohne sie zu berühren. Ihre Tränen versiegten so schnell, wie sie gekommen waren. Sie wischte sich mit dem bandagierten Daumen das Gesicht ab.
    «Charles, mir ist es todernst. Ich muss weg, sonst werde ich verrückt.»
    «Was willst du denn machen? Wohin willst du gehen?»
    «Das ist unwichtig.»
    Diese Gefühle hatte ihm Mary bisher noch nie eingestanden. Charles war schockiert und entnervt und wusste keine Antwort. Natürlich bedeutete ihre Bemerkung auch, dass sie bereit war, ihn zu verlassen. Sie wollte ihn einfach im Stich lassen. Aber diesen Gedanken schob er sofort beiseite. Das war unmöglich. Warum war sie so zornig und frustriert? Er konnte es sich einfach nicht erklären. Er hatte angenommen, sie fühle sich in der Gesellschaft ihrer Eltern und in ihrer vertrauten Umgebung wohl. Hatte sie nicht fast zufrieden gewirkt? Sie hatte doch Zeit zum Lesen und zum Sticken. Hatte sie nicht behauptet, sie freue sich immer auf ihre Gespräche am Ende des Tages?
    Er konnte ihre Drohung nicht ernst nehmen und sagte lediglich: «Und was wird dann aus Papa?»
    Sie warf ihm einen verstörten Blick zu und verließ das Zimmer. Er konnte ihre Schritte auf der Treppe hören. Dann schlug die Haustüre zu. Sie war ohne Schultertuch und Haube ins Freie gelaufen.
     
     
    Trotz der milden Nacht pfiff ein kräftiger Wind durch die Straßen. Mary Lamb hatte weder ein Ziel noch einen Plan. Sie musste einfach nur fliehen, hinaus an die frische Luft. Rasch ging sie übers Pflaster. Eine Ratte verschwand in einem Wasserrohr, doch dieser Anblick verunsicherte sie nicht. So war nun mal die Welt. Heftige Windstöße trieben Orangenschalen und Zeitungsfetzen raschelnd über die Steine. Sie hatte ihre Haare nicht festgesteckt. Zerzauste Strähnen wirbelten ihr in den Nacken und um die Stirn. Ich bin eine Hexe, dachte sie, ein Mitternachtsgespenst. Ich bin verflucht. Sie fing zu rennen an und bog um eine dunkle Ecke. In ihrer Hast taumelte sie gegen jemanden.
    «Miss

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