Wie funktioniert die Welt?
Schwergewicht der Gaia-Hypothese liegt zwar auf Kooperation im Maßstab der Biosphäre, Wissenschaftler konnten aber anhand zahlreicher Beispiele dokumentieren, wie Kooperation auf einer Ebene durch Konkurrenz und natürliche Selektion auf niedrigeren Niveaus evolutionär entstehen kann. Lovelocks radikale Vorstellung, die anfangs von ernsthaften Wissenschaftlern als esoterisches Brimborium kritisiert wurde, ist mittlerweile zunehmend in die wissenschaftlichen Lehrmeinungen eingeflossen, und entscheidende Elemente werden heute häufig unter dem Begriff »Geosystemforschung« gelehrt. Unter anderem ergab sich aus der Gaia-Forschung die aktuelle Erkenntnis, dass die Komplexität der Nahrungsnetze einschließlich der Vielfalt höherer Arten häufig die Stabilität von Ökosystemen und Klima verstärkt.
Die Erde mag also zwar in einer habitablen Zone angesiedelt sein – sie ist der Sonne weder zu nahe noch zu weit von ihr entfernt –, der ungezügelte Erfolg des Lebendigen auf diesem »hellblauen Punkt« lässt sich aber nicht allein auf Glück zurückführen. Das Leben hatte es auch selbst in der Hand, seinen eigenen Fortbestand zu sichern.
Die Wissenschaft hat sich die Gaia-Hypothese bisher nicht in vollem Umfang zu eigen gemacht, und man muss auch einräumen, dass sie als Erklärung unvollständig bleibt. Aber die Erkenntnisse, die wie eine Lawine aus der Gaia-Hypothese erwachsen, sind zweifellos tiefgreifend und schön: Sie vereinigen die gesamte Biosphäre und die Prozesse an der Erdoberfläche zu einem einzigen, emergenten, sich selbst regulierenden System. Aber bisher hat diese Erklärung nicht den dritten Meilenstein erreicht, der in der diesjährigen
Edge
-Frage benannt wird: die Eleganz. Ihr fehlt die mathematische Präzision von Einsteins
e = mc
2 . Bisher wurde keine einheitliche Theorie der Erde und des Lebens präsentiert, die erklären könnte, warum das Leben sich stärker stabilisiert als destabilisiert.
Der Evolutionsbiologe W.D. Hamilton verglich Lovelocks Erkenntnisse einmal mit denen von Kopernikus und fügte hinzu, wir müssten noch auf den Newton warten, der die Gesetze dieser großartigen, scheinbar unwahrscheinlichen Zusammenhänge definiert. Hamilton selbst vertiefte sich intensiv in die Suche nach einer Antwort auf diese Frage und entwickelte ein Computermodell, das zu zeigen schien, wie Stabilität und Produktivität im Gleichschritt ansteigen können. Wäre er nicht viel zu früh gestorben, hätte er vielleicht zu diesem Newton unserer Tage werden können.
Auch über die kulturellen Konsequenzen von Gaia wird nach wie vor diskutiert. Die wohl tiefgreifendste Folgerung aus Lovelocks Gedanken ist die Erkenntnis, dass die Erde, als Ganzes betrachtet, viele Eigenschaften eines Lebewesens hat. Aber ist Gaia tatsächlich lebendig, und ähnelt sie damit einer einzelnen Lebensform, oder stellt man sie sich besser als Ökosystem von der Größe eines Planeten vor? Lynn Margulis vertrat nachdrücklich (und in meinen Augen überzeugend) die zweite Möglichkeit. Margulis, die mit ihren Arbeiten im kleinsten wie im größten Maßstab für eine Revolution der Evolutionsbiologie sorgte, ist 2011 gestorben. Stets die nüchterne Wissenschaftlerin, sagte sie einmal: »Gaia ist ein zähes Miststück – ein System, das mehr als 3 Milliarden Jahre ohne Menschen funktioniert hat. Die Oberfläche dieses Planeten, seine Atmosphäre und seine Umwelt werden ihre Evolution noch fortsetzen, wenn Menschen und Vorurteile schon längst nicht mehr da sind.«
Ohne dieser unverblümten Einschätzung widersprechen zu wollen, finde ich in einem Denken, das sich an Gaia orientiert, eine beträchtlich größere Inspiration. Ich würde sogar so weit gehen, zu vermuten, dass dieser Gedanke dazu beitragen kann, die Wahrnehmung der Natur durch die Menschen zu verändern. Nach der modernistischen Sichtweise ist die Natur kaum mehr als eine Ansammlung praktisch unbegrenzter Ressourcen, die der Ausbeutung durch die Menschen zur Verfügung stehen. Die Gaia-Brille ermutigt uns, eine neue Sichtweise der irdischen Natur als verflochtenes, endliches Ganzes zu übernehmen, aus dem wir durch Evolution hervorgegangen sind und zu dem wir nach wie vor ganz und gar gehören. Damit haben wir eine tiefgreifende, schöne Sichtweise, deren Weiterverbreitung dringend geboten ist.
Laurence C. Smith
Die Kontinuitätsgleichungen
Professor für Geographie, University of California in Los Angeles; Autor von Die Welt im Jahr 2050 : Die
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