Wie funktioniert die Welt?
Beschreibungslänge ist eigentlich ein Maß für die Komplexität, aber für unsere Zwecke eignet sie sich ebenso gut: Wir können Einfachheit als das Gegenteil – oder in Zahlen ausgedrückt, den negativen Wert – von Komplexität definieren. Wenn wir einen Computer fragen wollen, wie komplex etwas ist, müssen wir ihm dieses »Etwas« in einer Form präsentieren, die der Computer handhaben kann – das heißt als Datendatei, als Kette aus Nullen und Einsen. Das ist alles andere als eine destruktive Einschränkung: Wir wissen, dass beispielsweise auch Filme in Datendateien repräsentiert sein können, also können wir nach der Einfachheit von etwas fragen, das sich in einem Film darstellen lässt. Da in diesem Film vielleicht wissenschaftliche Beobachtungen oder Experimente aufgezeichnet sind, können wir nach der Einfachheit einer wissenschaftlichen Erklärung fragen.
Interessante Dateien können natürlich sehr groß sein. Aber große Dateien müssen von ihrem Wesen her nicht komplex sein; wenn eine Datei beispielsweise Billionen Nullen und sonst nichts enthält, ist sie eigentlich nicht komplex. Die Idee der Beschreibungslänge besagt einfach, dass eine Datei nur so kompliziert ist wie ihre einfachste Beschreibung. Oder in Begriffen, mit denen ein Computer etwas anfangen könnte: Eine Datei ist so kompliziert wie das kürzeste Programm, mit dem man sie aus dem Nichts erzeugen kann. Damit ist ein genaues, allgemein anwendbares, numerisches Maß für die Einfachheit definiert.
Ein solcher Begriff von Einfachheit hat einen eindrucksvollen Vorteil: Er bringt Licht in andere attraktive, erfolgreiche Ideen und schafft Verbindungen zwischen ihnen. Ein Beispiel ist die Methode der theoretischen Physik. In der theoretischen Physik bemühen wir uns darum, die Ergebnisse einer Riesenzahl von Beobachtungen und Experimenten in den Begriffen einer geringen Zahl leistungsfähiger Gesetze zusammenzufassen. Mit anderen Worten: Wir bemühen uns um das kürzestmögliche Programm zur Beschreibung der Welt. In diesem präzisen Sinn ist theoretische Physik das Streben nach Einfachheit.
Hinzufügen sollte man, dass die Symmetrie, ein zentraler Aspekt der physikalischen Gesetze, beim Streben nach Einfachheit ein leistungsfähiger Helfer ist. Wenn wir es beispielsweise mit Gesetzen zu tun haben, die in der räumlichen und zeitlichen Umsetzung symmetrisch sind – mit anderen Worten: Gesetze, die überall und jederzeit gleichermaßen zutreffen –, brauchen wir für weit entfernte Teile des Universums oder verschiedene historische Epochen keine neuen Gesetze zu formulieren, sondern wir können unser Weltprogramm kurzhalten.
Einfachheit führt zu Tiefe: Damit ein kurzes Programm sich entfalten und reichhaltige Folgen nach sich ziehen kann, muss es lange Ketten der Logik und Berechnungen unterstützen, die das Wesen von Tiefe sind.
Einfachheit führt zur Eleganz: Die kürzesten Programme enthalten nichts Überflüssiges. Jedes Bit hat eine Bedeutung, denn sonst könnten wir es streichen und das Programm noch kürzer machen. Außerdem müssen die Einzelteile reibungslos zusammenwirken, damit aus wenigem vieles entsteht. Und kaum ein Prozess ist nach meiner Überzeugung so elegant wie der von dem DNA -Programm gesteuerte Aufbau eines Babys aus einer befruchteten Eizelle.
Einfachheit führt zu Schönheit: Wie wir gesehen haben, zieht sie Symmetrie nach sich, und die ist ein Aspekt der Schönheit. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Tiefe und Eleganz.
Richtig verstanden, bietet Einfachheit also eine Erklärung dafür, warum eine gute Erklärung tief greifend, elegant und schön ist.
Thomas Metzinger
Die Einfachheit als solche
Philosophisches Seminar, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz; Autor von Der Ego-Tunnel
Eleganz ist mehr als nur eine ästhetische Qualität oder eine Art flüchtiges Hochgefühl, das wir bei tieferen Formen des intuitiven Verstehens erleben. Eleganz ist formelle Schönheit. Und formelle Schönheit als philosophisches Prinzip ist einer der gefährlichsten, subversivsten Gedanken, die von der Menschheit entdeckt wurden: Es ist die Tugend der theoretischen Einfachheit. Sie hat eine größere Zerstörungskraft als Darwins Algorithmus oder irgendeine andere einzelne wissenschaftlichen Erklärung, weil sie uns zeigt, was die Tiefe einer Erklärung eigentlich ist.
Eleganz als theoretische Einfachheit gibt es in vielen Formen. Jeder kennt Ockhams Rasiermesser, das ontologische Sparsamkeitsprinzip:
Gebilde
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