Wie funktioniert die Welt?
skizziert Weyl, wie man mit Hilfe der Gruppentheorie die Form von Kristallen erklären kann. Kristalle mit ihren hübschen Facetten faszinieren die Menschen schon von alters her. Die meisten Gesteine enthalten eine Mischung verschiedener Mineralien, die jeweils aus Kristallen bestehen, dann aber zusammengewachsen sind, zusammengepresst wurden oder so weit verwittert sind, dass man keine Facetten mehr erkennt. Hin und wieder jedoch bilden die gleichen Mineralien auch große Kristalle mit Facetten; in dieser Form finden wir sie ästhetisch am reizvollsten. »Aluminiumoxid« hört sich vielleicht nicht nach etwas Kostbarem an, aber wenn man ein wenig Chrom hinzugibt und der Natur genügend Zeit lässt, erhält man einen Rubin, der eines Königs würdig ist.
Die Kristallfacetten, die man in der Natur findet, treffen stets in bestimmten Winkeln aufeinander, die einer kleinen Gruppe verschiedener Symmetrieformen entsprechen. Aber warum nimmt Materie bestimmte Formen an, andere aber nicht? Welche wissenschaftlichen Informationen vermitteln die Formen? Weyl erklärt, wie man solche Fragen beantworten kann, indem man eine abstrakte Mathematik, die scheinbar nichts damit zu tun hat, auf die Beantwortung einer anderen Frage anwendet: Welche Formen kann man nutzen, um eine Ebene mit einem Mosaik zu versehen oder einen Raum auszufüllen, wenn die Formen alle genau gleich sein sollen, an den Kanten aufeinandertreffen und keine Zwischenräume lassen?
Diese Aufgabe lässt sich mit Quadraten, Rechtecken, Dreiecken, Parallelogrammen und Sechsecken bewerkstelligen. Vielleicht glaubte manch einer, viele andere Vielecke seien dafür ebenfalls zu gebrauchen – wenn man es aber ausprobiert, stellt man fest, dass es keine weiteren Möglichkeiten gibt. Fünf-, Sieben- und Achtecke sowie alle anderen regelmäßigen Vielecke passen nicht zusammen, ohne dass Zwischenräume bleiben. In seinem kleinen Buch beschreibt Weyl, mit welchen mathematischen Methoden man die Möglichkeiten vollständig klassifizieren kann; unter dem Strich bleiben nur 17 in zwei Dimensionen (die sogenannten Tapetenmuster) und 230 in drei Dimensionen.
Die Liste war vor allem deshalb erstaunlich, weil sie genau mit der Liste der in der Natur beobachteten Kristallformen übereinstimmt. Daraus kann man schließen, dass kristalline Materie eine Art Mosaik aus unteilbaren, gleichen Bausteinen darstellt, die sich wiederholen und das Ganze zu einer festen Substanz machen. Heute wissen wir natürlich, dass es sich bei diesen Bausteinen um Gruppen von Atomen oder Molekülen handelt. Man muss aber bedenken, dass der Zusammenhang zwischen Mathematik und echten Kristallen im 19 . Jahrhundert hergestellt wurde, als die Atomtheorie noch Gegenstand von Zweifeln war. Es ist verblüffend: Die abstrakte Untersuchung von Fliesen und Bausteinen kann zu einer echten Erkenntnis über die Grundbestandteile der Materie und einer Einteilung aller ihrer möglichen Anordnungen führen. Es ist ein klassisches Beispiel für das, was der Physiker Eugene Wigner als die »unvernünftige Leistungsfähigkeit der Mathematik in den Naturwissenschaften« bezeichnet hat.
Die Geschichte ist aber damit noch nicht zu Ende. Nachdem man die Quantenmechanik entwickelt hatte, konnte man Gruppentheorie und Symmetrieprinzipien anwenden, um die elektronischen, magnetischen, elastischen und sonstigen physikalischen Eigenschaften von Feststoffen vorauszusagen. In einer Nachahmung dieses Triumphes erklärten Physiker mit Symmetrieprinzipien auch erfolgreich die Grundbestandteile der Atomkerne und Elementarteilchen sowie die Kräfte ihrer Wechselwirkungen.
Ich las Weyls Buch als Schüler; damals erschien mir die Kristallographie als Ideal dessen, wonach man in der Wissenschaft streben soll: elegante Mathematik, die ein vollständiges Verständnis für alle physikalischen Möglichkeiten liefert. Ironischerweise war ich viele Jahre später an dem Nachweis beteiligt, dass mein »Ideal« einen schwerwiegenden Fehler hat. Im Jahr 1984 berichteten Dan Shechtman, Ilan Blech, Denis Gratias und John Cahn über die Entdeckung einer rätselhaften, von Menschen hergestellten Legierung aus Aluminium und Mangan mit Ikosaedersymmetrie. [4] Die Ikosaedersymmetrie mit ihren sechs fünffachen Symmetrieachsen ist die berühmteste verbotene Kristallsymmetrie. Wie es der Zufall wollte, hatten Dov Levine (Technion) und ich gerade hypothetische Gedanken über eine neue Form von Feststoffen entwickelt, die wir
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