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Wie funktioniert die Welt?

Wie funktioniert die Welt?

Titel: Wie funktioniert die Welt? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Brockman , Herausgegeben von John Brockman
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einen der gordischen Knoten, mit denen Wissenschaftler und Wissenschaftsphilosophen sich seit langem herumschlagen.
    Dieser Knoten ist die Reproduzierbarkeit. Kann man das Verhalten eines Systems auf Grund des Verhaltens seiner Bestandteile verstehen – das heißt, kann man es darauf reduzieren? Diese Frage zieht sich in dieser oder jener Form durch die gesamte Wissenschaft. Systembiologen gegen Biochemiker, Kognitionsforscher gegen Neurowissenschaftler, Durkheim gegen Bentham, Gould gegen Dawkins, Aristoteles gegen Demokrit – die (erkenntnistheoretische, ontologische und methodische) Kluft zwischen ganzheitlichem und reduktionistischem Standpunkt ist die Wurzel vieler großer Meinungsverschiedenheiten in der Wissenschaft. Sie ist auch eine Ursache für Fortschritte, wenn der eine Standpunkt zugunsten eines anderen aufgegeben wird. Häufig laufen ganzheitliche und reduktionistische Forschungsprogramme sogar im Rahmen eines heiklen Waffenstillstands nebeneinanderher (man denke nur an ein beliebiges biologisches Institut). Aber wenn der Waffenstillstand wie so oft gebrochen wird und der offene Krieg wiederaufflammt, wird klar, was notwendig ist: ein Weg, um die auf verschiedenen Ebenen wirksamen kreativen Kräfte rational einzuteilen.
    Dies wurde von Price möglich gemacht. Seine Gleichung gilt nur für Systeme der Variation und Selektion, aber bei genauerem Nachdenken stellt man fest, dass die meisten Systeme, die Ordnung schaffen, tatsächlich auf Variation und Selektion beruhen. Kehren wir noch einmal zur Welt der Musik zurück: Wer gibt ihr eigentlich ihre Form? Die Beethoven-Epigonen, die mit ihren MIDI -Dateien herumspielen? Jugendliche, die einsam in ihren Schlafzimmern etwas herunterladen? Die massenhaften Impulse der Öffentlichkeit? Ich glaube, die Price-Gleichung kann es erklären. Und ein gewisser Erklärungsbedarf besteht mit Sicherheit.

Gerd Gigerenzer
Unbewusste Schlüsse
    Psychologe; Direktor des Forschungsbereichs Adaptives Verhalten und Kognition am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin; Autor von Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition
    Optische Täuschungen anzuschauen macht Spaß. Sie sind rätselhaft und robust: Selbst wenn man es besser weiß, bleibt man in der Illusion gefangen. Warum gibt es sie? Sind sie nur mentale Absonderlichkeiten? Der Physiker und Physiologe Hermann von Helmholtz ( 1821 – 1894 ) lieferte uns eine schöne Erklärung für die Natur der Wahrnehmung und für die Frage, wie sie Illusionen von Tiefe, Raum und anderen Eigenschaften erzeugt. Wahrnehmung erfordert kluge Vermutungen, die man als
unbewusste Schlüsse
bezeichnet.
    Im dritten Band seines
Handbuches der physiologischen Optik
schildert Helmholtz ein Kindheitserlebnis:
    Ich selbst entsinne mich noch, dass ich als Kind an einem Kirchturm (der Garnisonskirche zu Potsdam) vorübergegangen bin und auf dessen Galerie Menschen sah, die ich für Püppchen hielt, und dass ich meine Mutter bat, sie mir herunterzulangen, was, wie ich damals glaubte, sie können würde, wenn sie den Arm ausstreckte. Der Zug hat sich meinem Gedächtnisse eingeprägt, weil mir an meinem Irrtum das Gesetz der perspektivischen Verkleinerung deutlich wurde. [11]
    Aus diesem Kindheitserlebnis lernte Helmholtz, dass die Informationen, die von der Netzhaut und anderen Sinnesorganen geliefert werden, für eine Rekonstruktion der Welt nicht ausreichen. Größe, Abstände und andere Aspekte muss man aus unsicheren Anhaltspunkten ableiten, und die wiederum muss man durch Erfahrung erlernen. Auf der Grundlage solcher Erfahrungen zieht das Hirn unbewusste Schlüsse auf die Bedeutung einer Sinnesinformation. Mit anderen Worten: Wahrnehmung ist eine Art Wette auf das, was um uns herum tatsächlich existiert.
    Aber wie funktionieren diese Schlüsse im Einzelnen? Helmholtz stellte eine Analogie zu probabilistischen Syllogismen her. Die vorrangige Voraussetzung dafür ist eine Ansammlung von Erfahrungen, die weit außerhalb des Bewusstseins liegen; die nachrangige Voraussetzung sind die derzeitigen Sinneseindrücke. Betrachten wir beispielsweise einmal die »Fleckentäuschung« von V.S. Ramachandran und Kollegen vom Center for Brain and Cognition der University of California in San Diego:

    Im linken Bild erscheinen die Flecken konkav – sie treten vom Beobachter weg in die Oberfläche zurück, die auf der rechten Seite dagegen sehen konvex aus, das heißt, sie wölben sich in Richtung des Beobachters.

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