Wie funktioniert die Welt?
Zyklopen
Immer wenn wir hochgeordnete Phänomene sehen – ein Baby, eine Symphonie, einen wissenschaftlichen Artikel, ein Unternehmen, eine Regierung, eine Galaxie –, fühlen wir uns zu der Frage veranlasst: Wie entsteht diese Ordnung? Eine – allerdings abstrakte – Antwort lautet: Jedes dieser Phänomene ist das Produkt eines Prozesses von Variation und Selektion. Damit meine ich alle Prozesse, die mit vielen Varianten beginnen, von denen aber die meisten sterben (oder in den Papierkorb geworfen werden, sich auflösen oder zusammenbrechen), so dass nur wenige übrig bleiben, die fit (oder stark oder reizvoll oder stabil) genug sind und überleben. Das berühmteste Beispiel für einen solchen Prozess ist natürlich die Entstehung der Lebensformen durch natürliche Selektion. Auch die Erkenntnis, dass die Kultur der Menschen durch einen analogen Prozess angetrieben wird, ist heute Allgemeingut; aber wie die zuvor genannten Beispiele vermuten lassen, kann man Prozesse von Variation und Selektion überall erkennen, wenn man nur weiß, wonach man suchen muss.
Diese Idee hatten schon viele, aber niemand erkannte ihre Folgerungen so umfassend wie George Price, ein Amerikaner, der in London lebt: Er veröffentlichte 1970 eine Gleichung, mit der er alle möglichen Prozesse von Variation und Selektion beschrieb. [9] Die Price-Gleichung, wie sie heute genannt wird, ist einfach, tiefgreifend und elegant – und damit mein Kandidat für eine solche Erklärung. Mit ihr kann man unter anderem die Sendereinstellung eines Analogradios, die Kinetik chemischer Reaktionen, die Auswirkung der Säuglingssterblichkeit auf die Verteilung des Geburtsgewichts von Menschen oder die Gründe, warum wir gerade dieses Universum und nicht eine Vielzahl anderer bewohnen (vorausgesetzt, es gibt die anderen), beschreiben. Die eigentliche Faszination der Price-Gleichung liegt aber für mich nicht in der Form, die er ihr 1970 gab, sondern in einer Erweiterung, die er zwei Jahre später veröffentlichte. [10]
Systeme der Variation und Selektion haben unter anderem die Eigenschaft, dass die Selektion auf vielen verschiedenen Ebenen stattfinden kann. Musik ist eindeutig das Ergebnis von Variation und Selektion. Der Komponist sitzt am Klavier, überlegt sich, wie es weitergehen soll, und wählt aus der Welt der möglichen Töne, Akkorde oder Phrasen eine einzige aus. Man braucht sich nur Beethovens Manuskripte anzusehen (ein gutes Beispiel ist die Kreutzer-Sonate op. 47 ): Sie sind mit seinen Nebengedanken vollgekritzelt. Im Jahr 1996 legte Brian Enno diesen Prozess offen, indem er mit Hilfe der Koan-Software der Firma SSEYO eine sich ständig wandelnde Sammlung von Musikstücken erzeugte, die er als »generative Musik« bezeichnete.
Aber auch die Musik, die wir auf unseren iPods haben, ist natürlich nicht nur das Ergebnis der Auswahl eines Komponisten – und auch nicht nur der Auswahl von Produzenten, Musikern und so weiter –, sondern unserer eigenen Entscheidung. Auch wir als individuelle Verbraucher üben eine selektive und damit kreative Macht aus. Außerdem werden wir nicht nur als Individuen tätig, sondern auch als Mitglieder sozialer Gruppen. Wie Experimente gezeigt haben, brauchen wir nur zu wissen, welche Musik andere Menschen hören, dann sind wir bereit, unsere eigenen ästhetischen Vorlieben hintanzustellen (oder sogar völlig aufzugeben) und mit der Herde zu laufen – dieses Phänomen erklärt, warum es so schwierig ist, Hits vorherzusehen. Die Welt der Musik wird also sowohl von Komponisten als auch von Konsumenten und Konsumentengruppen geformt. Die gleiche Aussage machte Umberto Eco schon 1962 in seinem Buch
Opera aperta
(
Das offene Kunstwerk
). Als Literaturkritiker konnte Eco natürlich nicht mehr tun, als die Aufmerksamkeit auf das Problem zu lenken. Gelöst wurde es von George Price.
Im Jahr 1972 erweiterte Price seine allgemeine Gleichung der Variation und Selektion auch auf die Selektion auf mehreren Ebenen. In dieser Form war die Gleichung für Evolutionsbiologen nützlich: Sie konnten mit ihrer Hilfe beispielsweise ganz klar den Zusammenhang zwischen Verwandten- und Gruppenselektion erkennen und so endlose Kontroversen beilegen, die aus unvereinbaren mathematischen Formulierungen erwuchsen. Auf die kulturelle Evolution wurde sie bisher noch nicht angewandt, aber das wird mit Sicherheit geschehen. Die Bedeutung der erweiterten Price-Gleichung geht aber sogar auch darüber noch hinaus. Sie durchschlägt
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