Wie funktioniert die Welt?
gleichermaßen zuträfen, habe sie sich persönlich für die zweite entschieden, würden wir sicher glauben, sie habe ihre Wahl absichtlich aus Trotz und entgegen der Eleganz getroffen. Tracey Emin eben, und nicht Michelangelo.
Aber nehmen wir einmal an, Tracey würde nun sagen: »Ich wette, wenn wir ein wenig weiter blicken, werden wir feststellen, dass ich die ganze Zeit recht hatte.« Und angenommen, wir finden bei unserer weiteren Suche erstaunlicherweise tatsächlich, dass die nächste Zahl in der Reihe nicht 10 lautet, sondern 8 , 91 , und die übernächste nicht 12 , sondern 8 , 67 . Das heißt, die Reihe, die wir tatsächlich entdecken, lautet 2 , 4 , 6 , 8 , 8 , 91 , 8 , 67 . Dann passt die Regel, die uns zuvor als die bessere erschienen war, überhaupt nicht mehr zu den Tatsachen. Aber – Wunder über Wunder! – die zweite passt immer noch. In diesem Fall müssten wir eingestehen, dass Traceys Antieleganz gewonnen hat.
Wie oft führt die Realität uns hinters Licht, indem sie einfacher erscheint, als sie wirklich ist? Ein berühmtes Beispiel ist die Theorie von Francis Crick aus dem Jahr 1957 , wonach die DNA ihre Anweisungen für die Proteinsynthese mit einem »kommafreien Code« weitergeben sollte. Jahre später schrieb Crick: »Natürlich waren [wir] ganz aufgeregt angesichts der Vorstellung eines kommalosen Codes. Er schien so schön, beinahe elegant. Man gab die magischen Zahlen 4 (die vier Basen) und 3 (das Triplett) ein, und heraus kam die magische Zahl 20 , die Anzahl der Aminosäuren.« [16] Aber leider ließ sich diese hübsche Theorie nicht mit den experimentellen Tatsachen vereinbaren. Die Wahrheit war erheblich weniger elegant.
Eine Boshaftigkeit? Natürlich vermute ich nicht, dass die Natur Crick mit Absicht zappeln ließ. Wie schon Einstein sagte: Gott ist raffiniert, aber nicht boshaft. Dass die eleganteste Erklärung in diesem Fall nicht die richtige ist, war vermutlich einfach nur Pech. Und wenn man davon ausgeht, dass so etwas nicht allzu oft geschieht, können wir vielleicht im Allgemeinen immer noch damit rechnen, dass Wahrheit und Schönheit verbunden sind (was zweifellos viele andere Antworten auf diese
Edge
-Frage beweisen werden).
In den Fällen einer bestimmten Kategorie jedoch ist die Eleganz einer falschen Theorie keine Frage des Zufalls – wenn nämlich komplexe Phänomene tatsächlich dazu gestaltet wurden, sich zumindest den Menschen gegenüber als einfache Phänomene zu maskieren. Solche Fälle treten im Verlauf der Evolution immer dann auf, wenn es für die Menschen einen biologischen Vorteil bedeutete, bestimmte Dinge für besonders einfach zu halten. Der Gestalter der pseudoeleganten Gegenstände der Erklärung war nicht Gott, sondern die natürliche Selektion.
Ich möchte mein Lieblingsbeispiel schildern. Für Menschen sieht es so aus, als würden andere Einzelpersonen von der bemerkenswerten Struktur gelenkt, die wir als Geist bezeichnen. Es gehört aber zu den erstaunlichen, großartigen Dingen, dass der Geist eines Menschen für andere relativ einfach zu lesen ist. Wir alle tun das, seit wir Säuglinge waren; dazu bedienen wir uns der volkstümlichen Theorie, die in der Psychologie als »Theorie des Geistes« (oder manchmal auch als »Belief-Desire-Psychologie«) bezeichnet wird. Die Theorie des Geistes ist einfach, interessant und schon für einen Zweijährigen zu verstehen. Dass sie eine höchste leistungsfähige Methode darstellt, das Verhalten von Menschen zu erklären, steht außer Frage. Und diese Fähigkeit des Gedankenlesens war für das Überleben der Menschen in sozialen Gruppen unentbehrlich. In Wirklichkeit hätte die Theorie des Geistes jedoch nie so gut funktionieren können, wenn die natürliche Selektion nicht das Gehirn der Menschen so gestaltet hätte, dass es die Gedanken anderer Menschen lesen kann – und selbst lesbar ist. Hier kommt ein Taschenspielertrick der Erklärung ins Spiel. Als Erklärung dafür, wie das
Gehirn
funktioniert, ist die Theorie des Geistes einfach nicht geeignet. Sie ist ein zweckgebundener, übermäßig vereinfachter, tiefgreifender, eleganter Mythos, dessen Unzulänglichkeit sich vielleicht erst dann zeigt, wenn durch Geisteskrankheit oder Gehirnschäden einige »zusätzliche Zahlen« hinzukommen – Zufälligkeiten, welche die Selektion nicht zugelassen hat.
Ich finde diese Erklärung für die Eleganz der Theorie des Geistes sehr schön.
Steward Brand
Eignungslandschaften
Begründer, Whole Earth Catalog ;
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