Wie funktioniert die Welt?
von der blühenden, summenden Verwirrung der Transaktionen getrennt wäre. Stattdessen kann man danach die gesamte kulturelle Weitergabe auf zwei Typen reduzieren: Eine mentale Repräsentation wird öffentlich gemacht, oder die mentale Version einer öffentlichen Präsentation wird internalisiert. Sperber formuliert es so: »Kultur ist der Niederschlag von Kognition und Kommunikation in einer Population von Menschen.«
Sperbers Grundprinzipien – Externalisierung von Ideen, Internalisierung von Ausdrucksformen – eröffnen uns die Möglichkeit, die Kultur nicht als großen Behälter zu sehen, der von Menschen bewohnt wird, sondern als Netzwerk; zeichnet man seine Spuren sorgfältig nach, können wir fragen, wie das Verhalten einzelner Personen größere, langlebige Gesetzmäßigkeiten schafft. Manche öffentlichen Darstellungen werden übereinstimmend erlernt und anschließend wiederum ausgedrückt und neu erlernt – Kinderlieder, Schottenmuster und Peer-Review haben Jahrhunderte überlebt. Andere sind irgendwann allgegenwärtig und schon wenige Jahre später nur noch Randerscheinungen wie die Pet Rocks oder der »Piña Colada Song«. Wieder andere – Kostümspiele oder nachgespielte Bürgerkriege – gedeihen nur in bestimmten Subkulturen. (Eigentlich ist eine Subkultur sogar einfach ein Netzwerk von Menschen, die bestimmte Darstellungsformen unter sich austauschen – Darstellungsformen, die in der Kultur insgesamt unbedeutend bleiben.)
Mit Sperbers Modell der nachgezeichneten Netzwerke analysiert man Kultur idealerweise als Gruppe einander überschneidender Transaktionen und nicht als Behälter oder Ding oder Kraft. Vor diesem Hintergrund können wir detailliert fragen, welche privaten Gedanken an welcher Stelle öffentlich gemacht werden, und wir können untersuchen, wann und wie oft solche öffentlich gemachten Ideen im Geist einzelner Menschen Fuß fassen.
Statt beispielsweise darüber zu diskutieren, ob das Sonett noch heute ein lebendiger Bestandteil der abendländischen Kultur ist, macht Sperber es möglich, eine andere Frage zu stellen: Warum besitzen Menschen mentale Repräsentationen einzelner Sonette oder des Sonetts als genereller Form? Wie oft verleihen sie diesen Repräsentationen Ausdruck? Wie oft erinnern andere sich an diesen Ausdruck? Die Kenntnisse über Sonette zu verstehen wird damit zu einem Projekt der Netzwerkanalyse; seine Triebkraft sind empirische Fragen danach, wie weit verbreitet, wie detailliert und wie einheitlich die geistigen Repräsentationen von Sonetten sind. Damit kann man die kulturelle Hinwendung zu Sonetten, Angry Birds, der amerikanischen Ausnahmestellung und der Relativitätstheorie durch dieselbe Brille betrachten.
Das ist der Grund, warum Sperbers Idee so leistungsfähig ist: Kultur ist ein riesiges, asynchrones Netzwerk der Verdoppelungsvorgänge – Ideen werden zu Ausdrücken, die sich ihrerseits in andere, verwandte Ideen verwandeln. Durch Sperber können wir auch verstehen, warum öffentliche Ausdrucksformen manchmal so ungeheuer dauerhaft sind. Wenn ich meinem Sohn »Camptown Races« vorsinge, internalisiert er seine eigene (etwas andere) Version. Wenn er aber Notenlesen lernt, erhält er den Zugang zu einem viel größeren Universum solcher Repräsentationen; Beethoven bedeutet für ihn dann nicht, »Für Elise« zu summen, sondern durch ein System allgemein anerkannter Symbole (die selbst wiederum als geistige Repräsentationen internalisiert werden) können Beethovens öffentliche Darstellungen noch Jahrhunderte später internalisiert werden.
Außerdem legt Sperbers Idee die Vermutung nahe, dass der verstärkte Zugang zur öffentlichen Präsentation von Ideen das dynamische Spektrum der Kultur insgesamt erweitert. Manche öffentlich verfügbaren Repräsentationen werden in der größtmöglichen Gruppe von Beteiligten aller Zeiten Fuß fassen, sowohl was die absolute Zahl als auch was den prozentualen Anteil an der Menschheit angeht. (Man betrachte beispielsweise die Zahl der Menschen, die heute den Satz »That’s killing two pigs with one bird« versteht.) Diese global vernetzte Möglichkeit zur kulturellen Nachahmung macht dem Evolutionstheoretiker Mark Pagel Sorgen, wenn er davon spricht, das Internet schaffe die Möglichkeit zu »unendlicher Dummheit«.
Gleichzeitig war es für die Mitglieder potentieller Subkulturen nie einfacher, einander zu finden und eigene öffentliche Repräsentationen zu schaffen, die viel preisgünstiger sind, länger
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