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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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verzeichnet waren, funktionierte problemlos. Dahinter steckte natürlich Absicht. Mit jedem aufgedeckten Skandal in der Bundesrepublik stieg das Image der DDR. Alle Mittel zu diesem Zweck waren recht. Auch Kritiker im eigenen Land hätte man gern so erledigt, aber es gelang ihnen nicht immer. Beim einstigen Vorzeigewissenschaftler Robert Havemann hätten sie zu gern Belastendes aus der Nazizeit gefunden, um ihn moralisch zu erledigen, fanden aber nichts.
    An der Juristischen Hochschule zu Potsdam stellte am 13. Februar 1980 Major Dietrich Muregger von der Hauptabteilung IX/10 seine Diplomarbeit unter »Berücksichtigung des Marx’schen Grundsatzes, zur Wahrheit gehört nicht nur das Resultat, sondern auch der Weg. Die Untersuchung der Wahrheit selbst muss wahr sein« fertig. In der Arbeit ging es um die völkerrechtswidrigen Verbrechen des deutschen Faschismus. Muregger konnte sich bei seiner Analyse auf die Unterlagen im NS-Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit stützen. Schon die Untersuchung der Wahrheit also sollte wahr sein.
    Ach, Marx.
    Die sich auf ihn beriefen, logen die Wahrheit so lange zurecht, bis sie wieder in die alten Raster passte. Beispielhaft nach den Demonstrationen
vom 17. Juni 1953, als Arbeiter in Berlin und anderswo auf die Straßen gingen und sich in einem Aufstand der Plebejer gegen die Obrigkeit wehrten. Der Aufruhr wurde mit Hilfe sowjetischer Panzer blutig niedergeschlagen, es gab viele Tote, viele Verhaftungen, viele Schauprozesse, viele hohe Haftstrafen. Die konnten jeden treffen. Der damalige Justizminister Max Fechner sprach sich in einem Interview dafür aus, die sogenannten Rädelsführer, in Wirklichkeit die Wortführer in den Streikkomitees, nicht vor Gericht zu stellen. Er wurde sofort seines Amtes enthoben, verhaftet und zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.
    Zwar war es in Wahrheit das eigene Volk, das sich erhob, aber eine solche Wahrheit durfte es offiziell nicht geben, und das Resultat einer Wahrheitsfindung nach Art des Ministeriums für Staatssicherheit las sich dann so: »Die Vorkommnisse am 17. Juni 1953 zeigten, daß die Rädelsführer und aktiven Teilnehmer dieses versuchten Putsches zum größten Teil ehemalige aktive Faschisten und Anhänger des Naziregimes waren.«
    Danach wurden die bislang in den Bezirksverwaltungen verstreuten Materialien aus der Nazizeit – Akten über Angehörige und Funktionäre der SS, der Gestapo, des SD, der NSDAP, der SA, des Reichsjustizministeriums, des Volksgerichtshofes – zentral in Berlin-Hohenschönhausen verwaltet, ausgewertet und benutzt, um durch ihre »faschistische Vergangenheit belastete Personen noch zielgerichteter zu entlarven«, was allerdings nur für die Nazis galt, die im »Wirtschafts-und Militärapparat sowie in den Parteien« in Westdeutschland und Westberlin tätig waren. Die im eigenen Staatsgebiet Tätigen ließen sich gegebenenfalls anderweitig besser einsetzen.
    Dietrich Muregger, längst nicht mehr Major, sondern einfacher Mitarbeiter des Bundesarchivs in Dahlwitz-Hoppegarten, wohin im vereinten Deutschland die NS-Unterlagen ausgelagert worden waren, sichtete das Material rund zwanzig Jahre nach seiner Diplomarbeit noch einmal, diesmal nicht unter ideologischen Aspekten, sondern nach Faktenlage. Er kannte sich ja aus. Als Leiter der Abteilung IX/10 hatten er und seine Leute die
Staatsanwälte bei Prozessen gegen NS-Täter mit Dokumenten versorgt. Bis 1989 sind in der DDR 165 Personen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit aufgrund der Ermittlungen durch die »Untersuchungsorgane« des MfS verurteilt worden – ohne dass dabei manipuliert werden musste, weil die Beweislage eindeutig war.
    Auf der Liste von Exmajor Muregger, einst für seine Verdienste mit der »Medaille für Waffenbrüderschaft« ausgezeichnet, stehen viele Stichworte über das in MfS-Beständen vorhandene Material: beispielsweise Aktenpläne des Auswärtigen Amtes, Dienststrafbuch des SS-Totenkopf-Wachbataillons im Konzentrationslager Sachsenhausen, Tagebuch des dortigen Henkers Paul Sakowski, Spitzellisten der KPD, Unterlagen des MfS über Mitglieder des Deutschen Bundestages usw. Der Hinweis auf das Parteiarchiv der SED, wo nach Meinung vieler Experten bis heute die eigentlichen Zeitbomben aus der Vergangenheit liegen, taucht nur einmal auf.
    Die SED, von einem Heer geheimer Lauscher und einer willfährigen Justiz begleitet, sorgte nach dem Aufstand 1953 gnadenlos durchgreifend für Ruhe im Land. Die Mehrheit

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