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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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den Müllhaufen der Geschichte beförderte. Fritz Streletz behauptet zwar nach wie vor, »kein Gesetz, kein Befehl und keine Vorschrift erlaubten den Einsatz der Schusswaffe zum Zwecke des Tötens«, doch selbst er bedauert, wenn auch in ziemlich dürren Worten: »Jeder Tote an der Grenze – ob Grenzverletzer oder Angehöriger der Grenztruppen – war ein Toter zu viel.«
    Die Verstocktheit alter Männer, die keine Bedeutung mehr haben, außer man gibt ihnen eine, indem man sie befragt, ist jedoch unwesentlich für die gegenwärtige Lage der Nation. Im Nationalen Verteidigungsrat der DDR (NVR), der geheimnisumwitterten Notstandsregierung im Wartestand, die im Falle eines Falles im extra gebauten Atombunker im Politbüroghetto Wandlitz tagen sollte, gibt Erich Honecker am 3. Mai 1974 zu Protokoll: »Nach wie vor muss bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und es sind die Genossen, die die Schusswaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen.« Von dieser Sitzung gibt es im Gegensatz zu all den anderen Sitzungen zwischen 1960 und 1989 ein ausführliches Wortprotokoll, weil an diesem Tag ein gewisser Fritz Streletz in Vertretung von Hoffmann alle Wortmeldungen in der Sitzung aufzeichnen ließ.
    Zurück aus der Vergangenheit in die Gegenwart: Eine Frau traf ich, in Sichtweite der ihrer Mündung zufließenden Elbe, die einst beim Volk drüben so verhasst war, dass stets sechs Bodyguards sie beschützen mussten: Birgit Breuel. Ihr Vorgänger an der Spitze der Treuhandanstalt, Detlev Karsten Rohwedder, war Ostern 1991 in seinem Haus bei Düsseldorf ermordet worden. Die Täter, denen er am beleuchteten Fenster seines Arbeitszimmers ein ideales Ziel bot, konnten nie ermittelt werden, nur so viel steht für das Bundeskriminalamt fest – dass der Schütze ein Mitglied der RAF war und kein Stasi-Killer, wie es Anhänger von Verschwörungstheorien behaupten. Rohwedder ist der Einzige, der für die deutsche
Einheit mit seinem Leben bezahlt hat, was für seine Witwe kein Trost sein kann. Aber angesichts der Entscheidungen, mit denen die Treuhand in das Leben von Millionen Menschen eingreifen musste, so notwendig wie schmerzlich, ist es eines der vielen kleinen Wunder in der deutschen Geschichte nach 1989, dass es nicht mehr Opfer gab. »Wir haben den Menschen ja wirklich viel zugemutet«, erklärt die ehemalige Treuhandchefin und CDU-Politikerin Birgit Breuel, »aber es gab nie eine Alternative zu dem, was wir tun mussten.«
    Was die Treuhändler tun mussten im Auftrag der Politik, die einen Sündenbock brauchte für alles, was schiefging bei der Privatisierung der DDR-Planwirtschaft, bei der Abwicklung eines Staates, hat Birgit Breuel klaglos akzeptiert. »Zwar hätten wir liebend gern mehr ostdeutsche Manager in leitenden Funktionen eingesetzt, doch die konnten wir uns ja nicht backen.« Ja, ja, es sei ein Fehler gewesen – aber das ist hier und heute leicht gesagt, denn damals waren »wir alle überfordert und unter einem ungeheueren Zeitdruck, was andererseits gut war, weil man schnell entscheiden musste, und schnelle Entscheidungen sind oft die besten -, nicht intensiv die Vermögensbildung für die Ostdeutschen gefördert zu haben, das hätte den Menschen mehr Selbstvertrauen gegeben.«
    An dem mangelt es, bis heute. Entstanden zwar in der Erziehung zum Kollektiv, zur Unterordnung, zur Disziplin, der rigorosen Unterdrückung des Individuums, das sich in einer freien Gesellschaft selbstbewusst und sich selbst vertrauend bewegt, sich durchsetzt oder gegebenenfalls auch mal scheitert. Aber sogar in einer nicht selbst verschuldeten Zwangslage hätte Selbstbewusstsein wachsen können, denn »unsere Erfahrung, in einem repressiven Leben irgendwie anständig gelebt zu haben, hat uns in gewisser Weise stark gemacht. Das ist ein Wert. Doch über den spricht niemand« (Maaz). Und Eppelmann: »Wir halten uns nicht für dümmer, für fauler, für ängstlicher, aber die Grundkonditionen, unter denen wir leben, sind eben ganz anders als die, die ihr habt.«
    »Merken Sie eigentlich«, frage ich ihn, »dass Sie immer von ›wir‹ und von ›ihr‹ reden, Sie Separatist?« Natürlich merkt er das. Er hat ja nur darauf gewartet, dass ich es endlich merke. Schon lachen wir in Einheit.
    Die gefühlte Lage der lange geteilten Nation ist schlechter als die tatsächliche: 39,7 Millionen Deutsche hatten im Januar 2008 eine sozialpflichtige feste Beschäftigung, so viele wie noch nie seit der

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