Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
abzugeben, die sie so lange als kaltherzige Kapitalisten, Imperialisten, Kriegstreiber beschimpft hatten.
Berauschend war aber doch die geschichtsträchtige Nacht der überraschenden Nähe, das orgiastische Erleben, sich freudetränenfeucht zu küssen. Dieses Gefühl verschwand aber ebenso schnell, wie es entstanden war, und auch fast über Nacht. Der Theologieprofessor Richard Schröder von der Berliner Humboldt-Universität wischt die Erinnerung mit einer Handbewegung vom Tisch, zündet sich eine Zigarette an, stößt den Rauch aus und meint trocken, wie es seine Art ist: »Flitterwochen lassen sich nun mal nicht auf Jahrzehnte verlängern. Die Vorstellung vom dauernden Verliebtsein ist eine romantische Schnulze.«
Sein Beispiel leuchtet sogar mir ein.
Richard Schröder sieht spöttisch distanziert die Welt durch seine Brille so, wie sie ist, und nicht, wie sie sein müsste. Er ist damals wie andere Amateure aus der intellektuellen Dissidentenschar in die Politik geschleudert worden, war in der ersten frei gewählten DDR-Volkskammer bis Herbst 1990 Fraktionsvorsitzender der SPD.Weil er aus Sachsen stammt und der Dialekt unüberhörbar ist, klingt alles, was Schröder sagt, sanft und weich, obwohl er lakonisch Klartext spricht und Verletzungen etwaiger
Gefühle der einen wie der anderen dabei in Kauf nimmt. »Man sollte nicht so empfindlich sein und alles in den Einheitsbrei verrühren wollen. Bestimmte Unterschiede und Allergien bleiben, das ist so wie zwischen Bayern und Preußen. Bei uns hieß es doch auch: Hast du drei Minuten Zeit, schlage einen Sachsen breit.«
Bevor ich mich gemein über sein schlagkräftiges Beispiel freuen kann, legt er nach: »Bei den sogenannten Transferleistungen aus dem Westen in den Osten wird doch alles mitgerechnet, obwohl es schlicht Aufgabe des Staates ist, und von uns wird dafür fortwährend Dankbarkeit erwartet. Also Ausgaben für Rente, BAföG,Arbeitsmarkt,Hochschulen,Straßen,Kindergeld,Kasernen der Bundeswehr oder Arbeitslosengeld usw. Man könnte es doch einfacher machen: Alle unsere Arbeitslosen ziehen in den Westen, und schon fällt ihr Unterhalt nicht mehr unter Transferkosten.«
Da lacht er, der Sachse.Was er ernsthaft meint, hört sich in der Analyse der Vergangenheit und auch der Gegenwart, wie er sie unermüdlich in Büchern und vielen Artikeln ohne Rücksicht auf Parteifreunde formuliert hat, etwa so an: Ein Staat in Auflösung kam zu einem stabilen Staatswesen, das zwar Reformbedarf, aber keinen Revolutionsbedarf hatte. Warum sollte sich also der Westen anpassen? Für achtzig Prozent aller Deutschen blieb zunächst alles beim bewährten Alten, während sich für zwanzig Prozent alles änderte. Der Westen habe sich den Naziverbrechen irgendwann schonungslos gestellt, während im Osten der Antifaschismusmythos mehr Nebel als Klarheit schuf usw. Schröder kontert dann aber mit der Logik des Philosophen die oft gebrauchte These, dass die deutsche Einheit gescheitert sei: »Wenn Einheit scheitert, gehen freie Menschen getrennte Wege. Das gilt auch für Völker. Da das in Deutschland nicht der Fall ist, erübrigt sich eine Widerlegung.«
Basta.
Eines, das an das andere Basta des Mannes aus Hannover erinnert, der mal Bundeskanzler war und das gleiche Parteibuch besitzt. Außer diesem und dem Nachnamen verbindet Richard und
Gerhard Schröder allerdings wenig. Der aus dem Osten hat nie vergessen, wie der aus dem Westen über die innerlich längst abgeschriebenen Verwandten lästerte, als die ins Haus fielen und fortan mit am Tisch saßen. Die bekamen zwar jetzt fast alles, wovon sie geträumt hatten, aber wollten auch das behalten, was sie hatten, ihre sozialistische Heimeligkeit.
Es gelingt Richard Schröder, mir mit einer Anekdote klarzumachen, warum die Sehnsucht nach dem Mief von einst, der dumpfig roch, aber wohlig wärmte, größer sein kann als die nach einem Horizont in ungewisser Freiheit: »Mein Großvater hat sich einst in seiner Heimatstadt im Wohnungsbau für kinderreiche Familien engagiert und dafür gesorgt, dass die vier, fünf Zimmer bekamen. Als er seine Schützlinge nach einiger Zeit besuchte, saßen die alle wieder gemeinsam eng beieinander in der Wohnküche. Verblüfft fragte er, warum sie denn in diesem einen Raum säßen und nicht die anderen benutzten. Da gaben sie ihm zur Antwort: So ist es gemütlicher.Wir haben ein Zimmer vermietet.«
Richard Schröders Brüder und Schwestern in Christi, gleich welcher Glaubensrichtung und Kirche sie
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