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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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während der vergangenen fast zwanzig Jahre tapfer überlebten? War schließlich revolutionär, welche gegensätzlichen Welten und Systeme aufeinanderprallten – Zentralismus gegen Föderalismus, Willkür gegen Rechtsstaat, Zensur gegen Meinungsfreiheit, Einheitspartei gegen Parteienwettstreit, Planwirtschaft gegen soziale Marktwirtschaft, Maulkorb gegen Streitkultur, Diktatur gegen Demokratie. Genau die ist in eigener Regie von denen ertrotzt worden, die nie in Schulen, Universitäten und Betrieben Widerspruch gegen die Obrigkeit hatten lernen können, wie dies spätestens seit den sechziger Jahren im Westen selbstverständlich war. Darauf müssten sie doch – Moment mal, wir haben auch was zu sagen! – eigentlich stolz sein. »Wir drängeln uns eben nicht so nach vorn wie ihr«, lacht mich Eppelmann an, »das hat zu tun mit unserer Anständigkeit.«
    Die Lage der Nation lässt sich nicht nur mit der wirtschaftlichen Situation erklären oder der heute wohlfeilen Metapher, die Einheit sei zwar gekauft, aber eben nicht gefühlt. Die Verletzungen der einstigen DDR-Bürger, die mutig ihren Staat zu Tode demonstriert haben, ohne dass sie je zuvor Protest hätten üben können, müssen noch andere Ursachen haben. Simple Erklärungen unter dem Stichwort »ostdeutsche Nostalgie« sind zu einfach, denn in mancher Nostalgie steckt, wie es der Historiker Gerhard Ritter in seinem fulminanten Standardwerk »Der Preis der deutschen Einheit« anhand vieler anderer Beispiele begründet,
»ein Stück positiver Rückbesinnung. Die Spreewälder Gurken sind wunderbar, warum sollte man also westdeutsche Gurken kaufen?«
    Die tief sitzende Kränkung, nicht gleichwertig zu sein, ist entscheidender. Das tief sitzende Gefühl, minderwertig zu sein, zu den armen Verwandten zu gehören, die immer wieder belehrt werden, was sie tun sollen. »In der Entwicklungspsychologie«, erläutert Hans-Joachim Maaz, »ist eine der wichtigsten Lebenserfahrungen, es selbst zu etwas gebracht zu haben und nicht von der Gnade anderer abhängig zu sein. Ihr habt unsere Biografien nicht ernst genommen und gewürdigt erst recht nicht.«
    Das Beispiel der armen Verwandten, deren Alltag bestimmt war von der Schnäppchenjagd im Sozialismus, wo zwar niemand hungern musste, aber auch niemand das bekam, was er noch so zum Leben brauchte, gefällt Gregor Gysi. Der eloquente Star der Linken entwirft bei einem Glas italienischen Weißweins in seinem Abgeordnetenbüro ein einleuchtendes Bild: »Es ging um die Art der Vereinigung, also darum, wie die Einheit vollzogen wurde. Ich war dagegen, einfach nur beizutreten aus ebenjenen psychologischen Gründen. Falls eine reiche Tante und ein armer Neffe zusammenziehen und die sagt, in meiner Wohnung ist noch ein Zimmer frei, da kannst du bleiben, aber gefrühstückt wird jeden Tag um sieben Uhr, und gelebt wird nach meinen festen Regeln, muss sich der Neffe unterordnen. Das prägt.Wenn aber Tante und Neffe zusammen eine andere Wohnung bezogen hätten, selbst wenn der eine erst einmal die Miete bezahlt, hätten sie die gemeinsam neu einrichten müssen.«
    Davor hätte man sich, übertragen vom Sinnbildlichen auf die Einheit, gemeinsam die Strukturen der alten Bundesrepublik und die der verschwundenen DDR angeschaut und hätte sich geeinigt, okay, achtzig Prozent nehmen wir von euch, den Westlern, hat sich ja bewährt, zehn Prozent von uns, weil es besser strukturiert war, zehn Prozent machen wir gemeinsam was Neues, dann »hätte sogar die Frau in Kiel oder sonstwo das Gefühl gehabt, sie hätte was gewonnen durch die Einheit, statt immer nur für die
abgeben zu müssen – wobei die Ossis zusätzlich immer noch nörgeln und außerdem PDS wählen -, und bei uns im Osten hätte es das Selbstbewusstsein gestärkt, statt immer nur von drüben zu hören, ihr habt eigentlich nichts geleistet, das uns interessiert.«
    Richtig ist, dass bis 1989 die einen vom Leben der anderen kaum mehr wussten als das, was ihnen in der Fernsehwerbung vorgeführt worden war. Die anderen wussten vom Leben der einen kaum mehr als das, was sie aus ihren Magazinen, Zeitungen, Berichten von ARD und ZDF erfahren hatten, wollten anfangs nur mal kurz vorbeischauen, um die fernen Fremden näher zu betrachten. Je mehr bekannt wurde von den wahren Herrschaftsstrukturen der SED, je mehr enthüllt wurde vom menschenverachtenden System der Schnüffler und Denunzianten, desto weniger waren die Deutschen West bereit, ausgerechnet denen von ihrem Wohlstand etwas

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