Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
worden, die der Historiker Matthias Judt herausgegeben hatte. Also ein Sturm im Wasserglas die ganze Aufregung, ein Beispiel für mediale Hysterie.
Das interessantere Dokument ruhte bis zum Umbruch im »Militärarchiv der DDR«. Es handelt sich um den von Krenz und dem ehemaligen stellvertretenden Verteidigungsminister Fritz Streletz als »nicht existent« bezeichneten Schießbefehl, in dem Generaloberst a. D. Streletz nur eine »Kampfparole des Kalten Krieges« sieht, die das Bewusstsein der Bevölkerung in der BRD geprägt habe: »Es hat nie einen Schießbefehl gegeben … deshalb ist nach meiner Kenntnis auch niemals ein solches Dokument weder im Politbüro noch im Nationalen Verteidigungsrat oder im Kollegium des Ministeriums für Nationale Verteidigung behandelt worden.«
Soll ich das glauben?
Eher wohl nicht.
Der Befehl, dessen Kopie ich irgendwann selbst in den Händen hielt, trägt den Stempel »Geheime Verschlusssache«, wurde ausgestellt am 6. Oktober 1961 in Strausberg und ist unterschrieben von Armeegeneral Heinz (Karl-Heinz) Hoffmann, dem damaligen Verteidigungsminister der DDR. Der Wortlaut:
REGIERUNG
DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
BEFEHL
DES MINISTERIUMS FÜR NATIONALE VERTEIDIGUNG
Nr. 76/61
Inhalt : Bestimmungen über Schusswaffengebrauch für das Kommando Grenze der Nationalen Volksarmee
Die Verbände, Truppenteile und Einheiten des Kommandos Grenze der Nationalen Volksarmee haben die Aufgabe, die Unantastbarkeit der Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik bei jeder Lage zu gewährleisten und keinerlei Verletzungen ihrer Souveränität zuzulassen. Zur weiteren Sicherung der Staatsgrenzen der Deutschen Demokratischen Republik
BEFEHLE ICH:
Für die Wachen, Posten und Streifen der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee gelten ab sofort die Bestimmungen über Schusswaffengebrauch der DV-10/4 (Standortdienst- und Wachvorschrift der Nationalen Volksarmee)
In Erweiterung dieser Bestimmungen sind die Wachen, Posten und Streifen der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee an der Staatsgrenze West und Küste verpflichtet, die Schusswaffe in folgenden Fällen anzuwenden
zur Festnahme, Gefangennahme oder zur Vernichtung bewaffneter Personen oder bewaffneter Banditengruppen, die in das Gebiet der DDR eingedrungen sind bzw. die Grenze nach der Westzone zu durchbrechen versuchen, wenn sie die Aufforderung zum Ablegen der Waffen nicht befolgen oder sich ihrer Festnahme durch Bedrohung mit der Waffe oder Anwendung der Waffe zu entziehen versuchen;
zur Festnahme von Personen, die sich den Anordnungen
der Grenzposten nicht fügen, indem sie auf Anruf »Halt – stehen bleiben – Grenzposten« oder nach Abgabe eines Warnschusses nicht stehen bleiben, sondern offensichtlich versuchen, die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zu verletzen und keine andere Möglichkeit zur Festnahme besteht;
zur Festnahme von Personen, die mittels Fahrzeugen aller Art die Staatsgrenze offensichtlich zu verletzen versuchen, nachdem sie vorschriftsmäßig gegebene Stopzeichen der Grenzposten unbeachtet ließen oder auf einen Warnschuß nicht reagierten bzw. nachdem sie Straßensperren durchbrochen, beiseite geräumt oder umfahren haben und andere Möglichkeiten zur Festnahme der betreffenden Personen nicht mehr gegeben sind.
Die Anwendung der Schusswaffe gegen Grenzverletzer darf nur in Richtung Staatsgebiet der DDR oder parallel zur Staatsgrenze erfolgen. Von der Schusswaffe darf nicht Gebrauch gemacht werden
gegenüber Angehörigen ausländischer Armeen und Militärverbindungsmissionen;
gegenüber Angehörigen diplomatischer Vertretungen;
gegenüber Kindern.
In einer Anlage 1 über den Schusswaffengebrauch lässt Hoffmann noch einmal feststellen, die Waffe »darf insoweit gebraucht werden, wie es für die zu erreichenden Zwecke erforderlich ist«, verlangt unter Punkt 6, dass der Chef des Kommandos Grenze ihm über die Einführung dieser Bestimmungen bis 10. Oktober 1961 Vollzug zu melden habe, und schließt: »Dieser Befehl behält bis auf Widerruf Gültigkeit.«
An der innerdeutschen Grenze verloren bis 1989 mindestens 421 Menschen ihr Leben, das Mauermuseum am Checkpoint Charlie geht von 1245 Todesfällen aus.
Dass auf Flüchtende scharf geschossen wurde, bestreiten sogar
jene nicht mehr, die grundsätzlich bestreiten, dass es je einen Schießbefehl gegeben hat. Das sind die, von denen statt »Revolution« immer noch der Begriff »Wende« für das benutzt wird, was sie 1989 auf
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