Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
angehören, sind nicht so gottergeben optimistisch, was den Stand der deutschen Einheit betrifft. In einem »Jahrbuch der Gerechtigkeit« veröffentlichten zum Ende des Jahres 2007 kirchliche Hilfswerke und Organisationen, darunter fünf evangelische Landeskirchen, die Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden, vier diakonische Werke, viele ökumenische Werkstätten und die katholische Arbeitnehmerbewegung unter dem schon mal nichts Gutes verheißenden Titel »Zerrissenes Land. Perspektiven der deutschen Einheit« ihre Analysen über die wahre Lage der Nation.
Und die sieht ihrer Ansicht nach ziemlich düster aus: »Sollen der Riss zwischen West und Ost geschlossen, regionale Disparitäten entschärft und gerechte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben ermöglicht werden, sind für die neuen Bundesländer und darüber hinaus für ganz Deutschland neue Entwicklungspfade einzuschlagen. Der Versuch eines ostdeutschen Nachbaus West musste angesichts des doppelten Umbruchs
misslingen.« Die Verfasser der Denkschrift fordern einen Ausstieg aus der von ihnen so genannten »Transferökonomie«, was mit den üblichen staatlichen Transfers des Solidarpaktes nur zufällig den Begriff »Transfer« gemein hat. Was sie meinen, ist etwas anderes. Der Konsum im Osten müsse mit den dort heimischen Waren und den dort produzierten Gütern und Dienstleistungen angekurbelt werden, also nicht befördert werden mit den aus dem Westen eingeführten.
Dass dies nicht wie einst in der gescheiterten Planwirtschaft vom Staat einfach angeordnet werden kann, dass der Markt die Regeln von Angebot und Nachfrage bestimmt, wissen sie. Deshalb schlagen sie als Maßnahme für die nächsten fünfzehn Jahre die Halbierung der Mehrwertsteuer vor, also die Privilegierung »der Produktion in den neuen Bundesländern«, weil dies die Nachfrage stimulieren und neue Arbeitsplätze schaffen würde.
Als Kronzeuge für diese verblüffende Idee zitieren sie Helmut Schmidt, der dies längst schon vorgeschlagen habe.Wer würde es wagen, dem Altbundeskanzler ausgerechnet auf dem weiten Feld der Ökonomie zu widersprechen, wo er als Experte gilt? Wolfgang Thierse zum Beispiel, bärtig fleischgewordene moralische Instanz in allen Fragen der Beziehungen zwischen Ost und West. Er hält die Idee prinzipiell für gut, allerdings komme sie um etwa siebzehn, achtzehn Jahre zu spät und sei jetzt nicht mehr zu realisieren. Auch für die Forderung nach der befristeten Einrichtung eines Ministeriums, das ausschließlich für die wirtschaftliche Entwicklung Ost zuständig ist, gibt es keine Mehrheiten mehr. Man habe bereits einen Minister Aufbau Ost, lautet die Antwort der Politiker. Dass der nicht kann, was er können müsste, sei eine andere Sache, gehöre auf eine andere Baustelle. Ins Kabinett.
Die Entwicklung alternativer Energien und ihre intensive Förderung, ein Grundeinkommen für alle und neue Arbeitsformen durch Familien- und Gemeinschaftsarbeit, staatliche Bürgschaften für Risikokapital, um kleinen Unternehmen in der Konkurrenz zu großen eine reelle Chance auf dem Markt zu geben, werden dagegen längst in allen Parteien diskutiert, das ist nichts Neues.
Allerdings ziehen die christlichen Ökonomen daraus den Schluss, es müsse endlich mal Schluss sein mit Reden, es müsse gehandelt werden, und zwar so konkret, wie es bei der Erforschung neuer Medikamente gehandhabt wird, die zunächst in Labors getestet würden, bevor man sie an der Allgemeinheit erprobe. In diesem Fall durch die Finanzierung von Modellversuchen vor Ort im Osten.
Von einem solchen Modellversuch, zufällig im Dunstkreis der Stadt, in der einst Martin Luther damalige verkrustete Strukturen attackierte, hatte ich irgendwann gelesen, dem kleinen Wunder von Bad Schmiedeberg, wo die Arbeitslosigkeit mehr als halbiert worden sei innerhalb eines einzigen Jahres. Das kann man glauben oder nicht, wie das so ist mit Wundern. Ich wollte es lieber wissen. Deshalb fuhr ich später selbst dorthin.
Aber noch bleibe ich in Berlin.
Der erste und letzte frei gewählte Ministerpräsident der DDR zeigt mir auf dem Stich, der in seiner Kanzlei hängt, den einstigen Verlauf einer Grenze. Sie bestand aus einer zwei Meter dicken Mauer. Diese jedoch war durchlässig. An die Tore, durch die man in alten Zeiten nach Berlin kutschierte und die Stadt ungehindert von Wächtern jederzeit wieder verlassen konnte, erinnern Hallesches Tor oder Spandauer Tor oder Brandenburger Tor. Auch im 13. Jahrhundert
Weitere Kostenlose Bücher