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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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gab es um Berlin tiefe Gräben und einen hohen Wall.
    Lothar de Maizière grinst.
    Vom Fenster aus kann er auf den Dorotheenstädtischen Friedhof sehen, auf dem berühmte Deutsche liegen, sowohl aus dem Osten als auch aus dem Westen, aus dem Norden wie aus dem Süden. Über allen Toten herrscht einheitlich Ruhe. Bertolt Brecht und Dietrich Bonhoeffer, Günter Gaus und Helene Weigel, Rudolf Bahro und Johannes R. Becher, Thomas Brasch und Herbert Marcuse, Stephan Hermlin und Johannes Rau, Heiner Müller und George Tabori, Karl Friedrich Schinkel und Arnold Zweig, Anna Seghers und Ruth Berghaus, Hans von Dohnanyi und Johann Gottlieb Fichte, Heinrich Mann und Georg Wilhelm
Hegel und viele mehr sind hier begraben. »Wie nah sind uns manche Tote, doch wie tot sind uns manche, die leben«, hatte einst Wolf Biermann gedichtet, der ganz in der Nähe in der Chausseestraße 131 wohnte, bis die Herrschenden seine Spottlieder nicht mehr ertragen konnten und ihn ausbürgerten.
    Auch Lothar de Maizière, aus einer Hugenottenfamilie stammend, dank seiner von Musik und Kunst und erst spät von Politik – »ich betone: wider Willen!« – geprägten Biografie und trotz DDR-Vergangenheit ein Vertreter des deutschen Bildungsbürgertums, will mal da unten begraben werden. Muss allerdings nicht so bald sein, fügt er hinzu. De Maizière besitzt das eigentlich für Ossis untypische Talent, die Welt ironisch zu betrachten. Das verbindet ihn mit seinen Duz-Freunden Gregor Gysi und Richard Schröder und Rainer Eppelmann und Wolfgang Schäuble. Der amtierende Innenminister gehört zu seiner Partei, der CDU. Den einzigen Wessi in dieser Viererbande hat er während der Verhandlungen zum Einigungsvertrag kennengelernt. Eine weitere Erfahrung eint sie. Beide sind von Bundeskanzler Helmut Kohl, dem bekennenden Kleinbürger, der die historische Chance für die Einheit mit dem Gespür des political animal erkannt und als Staatsmann außenpolitisch abgesichert hat, gedemütigt worden, als sie gegen ihn aufmuckten, und beide haben ihm das bis heute nicht vergessen.
    Der Jurist Lothar de Maizière hat als Anwalt viele junge Männer vertreten, die wegen Wehrdienstverweigerung oder Pazifismus angeklagt worden waren. Das war im SED-Regime ein Straftatbestand. Militärdienst galt als Ehrendienst, Pazifismus als psychologische Kriegführung des Klassenfeindes. Da es in dem System keine Rechtssicherheit gab, was er wusste, hat er nicht um jeden Preis versucht, gerechte Urteile zu erreichen, einen Freispruch, sondern solche, die seinen Klienten trotz Haft eine Perspektive ließen. Der Unterschied zwischen Gerechtigkeit und recht haben und recht bekommen ist ihm geläufig. Recht hat nach »Gerechtigkeit zu streben, daran halte ich fest. Aber Gerechtigkeit gibt es nur im Himmel und beruht dann auf Gnade.«
    Der christliche Realist weiß aus seiner Erfahrung in der DDR, wie schwer es war, dem »Totalanspruch des Staates auf alle Bereiche des menschlichen Lebens den Anspruch Gottes auf den ganzen Menschen entgegenzuhalten«, und nicht von ungefähr hat Lothar de Maizière in seiner ersten Regierungserklärung am 19. April 1990 formuliert: »Wir geben uns nicht der Illusion hin, dass Moral und Recht identisch wären, dass wir mit Hilfe des Rechts Moral erzwingen könnten.« Er konterte damit die wehmütige Klage von Bärbel Bohley, Mitbegründerin des Neuen Forums und im Überschwang damaliger Gefühle »Mutter der Revolution« genannt, dass die Bürgerrechtler Gerechtigkeit gewollt und »nur den Rechtsstaat« bekommen hätten, mit der Leidenschaft des Pragmatikers. Sei es denn nicht toll, einen Rechtsstaat bekommen zu haben, hier auf Erden, und nicht erst auf Gerechtigkeit im Himmel warten zu müssen? Gewaltenteilung, Grundrechte, an die Verfassung gebundene Gesetze,Verhältnismäßigkeit der Mittel, Unabhängigkeit der Gerichte – kurz Rechtssicherheit für alle Bürger ohne Ansehen der Person.
    Seit sich der CDU-Mann aus der Politik verabschiedet hat, kann er sich wieder ganz der deutschen Einheit widmen. Hauptsächlich konzentriert sich Lothar de Maizière mit seiner Anwaltskanzlei auf Fälle, die entweder mit den Folgen der Vereinigung zu tun haben oder erst infolge der Vereinigung bekannt wurden. Zum Beispiel mit dem Fall des DDR-Bürgers Werner Schwarz, der von der »Kunst und Antiquitäten GmbH im Bereich Kommerzielle Koordinierung«, deren Chef der jetzt am Tegernsee lebende geheimnisvolle Alexander Schalck-Golodkowski war, in den Ruin getrieben und

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