Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
der Not auch individualpsychologische Schutzmechanismen
mit herausragenden Kräften und Fähigkeiten.« Und die habe die regierende Mutter der Nation, obwohl sie leibhaftig nie Mutter war.
Vom ehemaligen Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau, dem ich an einem für die vierte Jahreszeit in Hamburg typischen grautrüben Vormittag gegenübersitze, lasse ich mir die Geschichte einer deutsch-deutschen Annäherung erzählen, die zwar scheiterte, aber die politische Landschaft nachhaltig verändert hätte. Wie so vieles, was damals im Nebel unterging, wird auch das erst heute sichtbar und ist deshalb aktuell, als sei es erst gestern passiert. Voscherau, die Verkörperung eines echten Hanseaten – unbestechlich, nüchtern, kühl, in den Erfolg verliebt -, mischt in der SPD nach wie vor in den Kulissen und mitunter auch noch auf offener Bühne mit, obwohl er sich aus allen politischen Ämtern freiwillig zurückgezogen hat. Er findet Befriedigung in seinem Beruf als Notar. Vor ihm liegen Blätter mit handschriftlichen Notizen, die er zur Auffrischung seiner Erinnerung aus dem Staatsarchiv holen ließ. Was auf denen steht, hat er damals in diesem ganz anderen deutschen Herbst aufgeschrieben. Aber er muss sie nicht zurate ziehen, als er davon erzählt, er hat alles im Kopf gespeichert.
Den Mann, der ihn eines Tages im Rathaus anrief, kannte er seit etwa einem halben Jahr. Als Bürgermeister der Hamburger Partnerstadt Dresden hatte er Voscherau am 1. Mai 1989 zum 800. Hafengeburtstag an der Elbe besucht, dem träge dahinflie ßenden Fluss, an dem beide Städte liegen. Die eigentliche Sensation war nicht der Besuch an sich, sondern dass die Dresdner mit einem Raddampfer namens »Dresden« flussabwärts Richtung Hamburg fahren wollten. Zwei Wochen zuvor hatte sich der Chefmaschinist der »Dresden«, Harald Kliem, telefonisch erkundigt, wann am 1. Mai in Hamburg Niedrigwasser herrschen würde, und erst dann waren die Hanseaten sicher, dass die von drüben wirklich vorhatten zu kommen. Zum ersten Mal seit dem Mauerbau passierte ein Schiff mit Passagieren die innerdeutsche Grenze. Dass dies ein historisches Ereignis war, merkten Berghofer
und die Seinen, weil bei ihrem Einlaufen von allen im Hafen ankernden Schiffen zu ihrer Begrüßung getutet wurde und aus Feuerwehrschläuchen Wasserfontänen in den Himmel stiegen.
Sie blieben ein paar Tage.Von seinem Ostkollegen hatte Henning Voscherau »den Eindruck, dass ich einen Menschen vor mir hatte, der im Rahmen der Möglichkeiten des Systems einen einigermaßen anständigen Weg ging und deutliche Worte über die wahre und nicht die vorgespiegelte Situation fand, sobald er sicher sein konnte, dass ihn keiner von der Stasi belauschte«. Der Anruf jetzt, Spätherbst 1989, kam aus Salzburg, wohin der ostdeutsche Bürgermeister von der österreichischen Partnerstadt Dresdens eingeladen worden war. Die Grenzen waren inzwischen offen für alle.
Der Vorschlag, den Berghofer ihm unterbreitet, klingt sensationell, und ihn anzunehmen wäre tatsächlich eine politische Sensation. Der für die doktrinäre Spießergarde der SED untypisch offene Querdenker wird von westdeutschen Zeitungen bereits als eine Art Kennedy des plötzlich so nahen deutschen Ostens gefeiert. Er bietet an, die einmalige Gelegenheit des Umbruchs zu nutzen und in einer symbolischen Geste mit etwa 200 000 Parteimitgliedern der SED, die nicht in »größerem Maße belastet waren durch IM-Tätigkeiten«, in die SDP einzutreten, wie die im Herbst neu gegründete Sozialdemokratische Partei der DDR hieß. Nach einer Übergangszeit würden sie in die SPD wechseln und damit den Sozialdemokraten eine Basis für künftige Wahlerfolge schaffen, was die anderen Parteien dank der Übernahme der einstigen Blockparteien CDU und LPDP durch Kohl und Genscher ja bereits geschafft hatten.
Voscherau informierte seinen Parteivorsitzenden Hans-Jochen Vogel, nicht nur, weil ihm bewusst war, welche Chancen für die ersten freien Wahlen der DDR am 18. März 1990 die SDP haben würde, sondern auch, weil er ein bewegendes Szenario vor Augen hatte: »Man stelle sich vor:Werner-Seelenbinder-Halle in Ostberlin. Berghofer zieht ein in die Halle mit möglichst vielen Genossen. Hält eine Rede, in der er die Schmach der einstigen
Zwangsvereinigung von SPD und KPD geißelt, danach symbolisch die Rückkehr in die SPD verkündet und die anderen der KPD überlässt.«
So malt Henning Voscherau das Bild einer verlorenen Vergangenheit aus. Für wirksame
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