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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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stoppen und mitfahren. In Dresden haben sich im ersten Halbjahr bereits Tausende zur Reise ohne Wiederkehr entschlossen, genau 18 182 »Bürgerinnen und Bürger«, wie das Ministerium für Staatssicherheit in einem Geheimbericht notierte. Ende September waren es landesweit 160 785, die ihre Ausreise beantragt oder angetreten hatten.Viele Anträge nahmen die Dienststellen gar nicht erst an, vorgeblich zum »Schutz der nationalen Sicherheit und der Landesverteidigung«, aber hauptsächlich deshalb, um die Statistiken fälschen zu können. Das konnten sie, darin waren die Staatsdiener drüben Meister.
    Die Sorge, dass es bald vorbei sein könnte mit den kleinen Fluchten, trieb viele an. Seit gestern war die offene Grenze zur Tschechoslowakei wieder gesperrt. Ein schlechtes Zeichen. Die Staatsmacht, dank ihrer Inoffiziellen Mitarbeiter stets das Ohr am Puls der Zeit, ohne jedoch die Zeichen der Zeit zu erkennen, war auf entschlossene Schwarzfahrer vorbereitet. Hundertschaften der Polizei verbarrikadierten Gleise und Bahnsteige. Alle Versuche, die zu stürmen, wurden schon am Bahnhofsvorplatz mit Wasserwerfern, Tränengas, Gummiknüppeln erstickt. Steine flogen von der anderen Seite. Scheiben zerbrachen. Ein Funkstreifenwagen brannte. Solche Szenen hatte es in der DDR zuletzt am 17. Juni 1953 gegeben beim Aufstand gegen die erhöhten Arbeitsnormen. Damals rollten Panzer, fielen Schüsse, wurden gegen die sogenannten Rädelsführer Todesurteile verhängt und vollstreckt.
    Zweihundert Jugendliche befanden sich am Ende der Schlacht vor dem Bahnhof als »gewalttätige Störer« in Gewahrsam, außerdem viele gewaltfreie Unbeteiligte, die sich an den Auseinandersetzungen schon deshalb nicht hatten beteiligen können, weil sie zum eigentlichen Schlachtfeld gar nicht durchgekommen waren. Derartige Festnahmen listete die Staatsgewalt seit jeher unter dem verharmlosenden bürokratischen Begriff »Zuführungen« auf. Jeder DDR-Bürger aber wusste, was damit gemeint war: willkürliche Verhaftungen. Zuführungen waren – und sind – ein Markenzeichen von Diktaturen, wo man immer davon ausgehen musste, dass es nicht die Post war, falls es morgens klingelte.
    Zugeführt worden sind in Dresden in jenen Tagen insgesamt mehr als tausend Bürger, junge und alte, Frauen und Männer, anschließend mit Gefangenentransportern und auf Lastwagen in Sammelstellen geschafft worden, wo erneut Polizisten, junge und alte, Frauen und Männer, auf sie einschlugen. Die Inhaftierten mussten viele Stunden lang an der Wand stehen, wurden in die Kniekehlen getreten, sobald sie sich setzen wollten. Sie bekamen nichts zu trinken und nichts zu essen, aber in regelmäßigen Abständen Prügel. Erst recht hatten sie kein Recht auf einen Anwalt. Viele wurden aus Dresden nachts ins berüchtigte Zuchthaus nach Bautzen geschafft, und immer dann, wenn sie bei Verhören fragten, was man ihnen denn vorwerfe und was mit ihnen geschehe, oder wenn sie gar auf die DDR-Verfassung hinwiesen, wo in Artikel 30 wenigstens auf dem Papier die Würde des Menschen garantiert wurde, gab es Antworten mit dem Schlagstock.
    Die These von Lothar de Maizière fällt mir ein, nicht gerade zufällig, wonach es ein Fehler gewesen sei, für die Mitläufer des Regimes keine Generalamnestie erlassen zu haben, um so das vereinte Land nachhaltig zu befrieden. Er hat zweifellos recht. Aber Gerechtigkeit hat nun mal auch ihre verborgenen Reize. Man könnte zumindest die Schläger mal fragen, ob sie sich heute schämen für ihre Übergriffe. Bestraft worden sind sie nie, weil sie angeblich nur auf Befehl gehandelt und nicht etwa Lust empfunden hätten beim Prügeln.
    Von den prügelnden Staatsdienern drinnen hatten die Staatsbürger draußen trotz der angeordneten Geheimhaltung erfahren, aber nicht wie früher angstvoll geschwiegen, um sich nicht selbst in Gefahr zu bringen, sondern die sofortige Freilassung aller Zugeführten verlangt. Sie drohten mit Protesten so lange, bis ihre Forderungen erfüllt sein würden.Was sie sagten, meinten sie auch. Zwei Tage später zogen fünftausend Bürger durch Dresden und sangen, was sie einst pflichtgemäß hatten singen müssen: »Wacht auf,Verdammte dieser Erde.« Jetzt sangen sie freiwillig und meinten sowohl sich als auch ihre Nachbarn, und diese Internationale der Revolution begleitete den nationalen Aufstand. Die Herrschenden
durch deren ureigene Schlachtgesänge zu provozieren hätten sie vor Monaten nicht gewagt. Inzwischen war ihre Wut stärker als

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