Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
Regierenden lehnten die höfliche Aufforderung zum Tanz ab. Es wäre im Herbst 1989 aber ihre einzige Chance gewesen. Bald bleibt ihnen nur noch ein letzter Walzer, bevor im Saal das Licht ausgeht.
Weil die Apparatschiks wie seit Jahrzehnten mit Zensur, Verboten und Verhaftungen reagierten statt mit ehrlich gemeinter Bereitschaft zum Dialog, verlangten die Dissidenten von Tag zu Tag mehr von ihnen. Inzwischen wollten sie alles, und sie wollten alles jetzt: Schluss mit der Einparteienherrschaft, weg mit den Blockparteien, her mit Pressefreiheit, Redefreiheit, Reisefreiheit. Diese Botschaft kam auch bei denen an, die noch vor Kurzem mit einer einzigen Botschaft von ihren Vorgesetzten in Marsch gesetzt wurden, dem Befehl, allen eine schlagkräftige Antwort zu erteilen, die das System offen in Frage stellten. Soldaten und Polizisten waren schließlich nicht blind, brauchten keine geheimen Lageberichte, um die Lage zu erkennen. Sie sahen, wie es in Wahrheit aussah im Land, bei jedem Kontrollgang durch die zerbröselnden Innenstädte. Der Staat stand unübersehbar vor dem Zusammenbruch.
Und bei ihren Einsätzen erkannten sie, dass sie nicht in die imperialistische Fratze des Klassenfeindes blickten, sobald sie im Namen der Ruinenbaumeister den Knüppel erhoben, sondern in vertraut wirkende Gesichter. Ohne ihre Uniform wären sie auf der anderen Seite nicht weiter aufgefallen.
In einem Bericht des Dresdner Einsatzstabes der Nationalen Volkarmee werden die Lage nach den Ausschreitungen am Bahnhof und die dadurch ausgelöste Reaktion wahrheitsgemäß geschildert: »Während der ersten beiden Einsatztage (4. und 5. Oktober) gab es bis zum letzten Soldaten ein klares Feindbild und uneingeschränkte Handlungsbereitschaft trotz der Tatsache, dass
unsere Hundertschaften keine moralische Unterstützung von der anwesenden Bevölkerung spürten, sondern eher im Gegenteil (Buhrufe, Pfiffe, Zurufe Kommunistenschweine...). Selbst einzelne Parteimitglieder äußerten sich feindlich zum Einsatz der Armee, obwohl dieser erst dann erfolgte, wenn die VP-Kräfte überfordert waren. Angehörige der Demonstrationszüge bemühten sich verstärkt um Kontakte, besonders zu eingesetzten Soldaten und Unteroffizieren, um bei ihnen moralische Zweifel hervorzurufen. Nicht selten wurden junge Menschen, Mädchen, Frauen, Kinder vorgeschickt. Besonders bei Soldaten und Unteroffizieren nahmen deshalb Fragen, gewisse Zweifel und Verunsicherungen zu.«
Es ist 21.07 Uhr an diesem 8. Oktober 1989, als Berghofer gemeldet wird, die drei telefonisch angekündigten Herren seien da und wünschten ihn dringend zu sprechen. Hans Jörke, in der Stadtverwaltung sein Stellvertreter für Inneres, sagt ausdrücklich »Herren«, denn Genossen seiner und Berghofers Art sind Kirchenmänner wie Landesbischof Johann Hempel oder Superintendent Christof Ziemer wahrlich nicht. Deren Anliegen, vorgetragen in einem kleinen Nebenraum des großen Rathaussaales, ist schlicht dies: Der Herr Bürgermeister möge am nächsten Morgen eine Abordnung der Demonstranten empfangen, im Gegenzug würden sie die Demonstration draußen jetzt friedlich auflösen.
Genosse Berghofer stimmt spontan zu, obwohl er Entscheidungen von dieser Tragweite ohne Erlaubnis durch vorgesetzte SED-Funktionäre nicht treffen darf. Jeder Kontakt mit oppositionellen Gruppen ist den Mitarbeitern der Staatsorgane, zu denen er zählt, strikt verboten. Er kann eigentlich gar nichts entscheiden, denn er hat keine Befehlsgewalt über die örtliche Volkspolizei, schon gar nicht über Einheiten der Armee oder über die Schläger vom Ministerium für innere Sicherheit. Selbst höhere Stasi-Offiziere mussten sich Einsätze von der jeweiligen SED-Leitung vor Ort genehmigen lassen.
Zumindest den SED-Bezirkssekretär Hans Modrow will Berghofer deshalb informieren, verlässt den Raum, um ihn anzurufen,
erreicht den Dresdner Parteichef aber nicht, weil der bei der Zweitpremiere von »Fidelio« in der Semperoper weilt. Diesem Zufall gibt Berghofer deshalb jetzt die Chance auf eine Hauptrolle, kehrt zurück zu den anderen und lügt ihnen vor, alles sei von oben genehmigt. Er weiß zwar, dass er sich »am Rande des Hochverrats« bewegt, aber er weiß auch, dass es draußen in der Fußgängerzone jederzeit zu einer Eskalation mit blutigen Folgen kommen kann. Das will er verhindern, egal, was es ihn kostet, und sei es auch sein Amt. Er ist kein feuerköpfiger Rebell, aber ein realistischer Sozialist. Gemeinsam entwerfen er und
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