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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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die drei anderen einen Text, den Christof Ziemer verlesen soll.
    Berghofer geht zurück in sein Amtszimmer. Immer noch hört er Rufe von draußen. Plötzlich herrscht Ruhe. Dann eine Männerstimme. Das ist die von Ziemer: »Der Oberbürgermeister, Herr Berghofer, hat es mir im Ergebnis eines Gesprächs ermöglicht, zu Ihnen zu sprechen. Das ist ein Neubeginn. Er hat uns erklärt, dass er morgen um neun Uhr mit den von Ihnen bestimmten zwanzig Bürgern im Rathaus sprechen wird. Ich habe die Zusicherung erhalten, dass, wenn Sie friedlich nach Hause gehen, die Volkspolizei Ihnen dazu den Weg freigibt.« Berghofer wird bis heute nicht müde, Ziemer zu loben, ohne den das alles nicht gegangen wäre: »Also, wenn man jemandem ein Denkmal setzen wollte, dann ihm.«
    Nach dem Zufallsprinzip werden zwanzig Demonstranten ausgewählt, die später so genannte »Gruppe 20«, die am nächsten Morgen stellvertretend für alle hier ins Rathaus gehen soll. Wenige Minuten danach erfolgt der Anruf des Einsatzleiters Major Prager, der dem Bürgermeister bestätigt, dass sich seine Männer zurückziehen in ihre Kasernen. Etwa zur selben Zeit, laut Vermerk genau um 22.10 Uhr, ruft der Dresdner Stasi-Bezirkschef Horst Böhm den stellvertretenden Minister für Staatssicherheit Gerhard Neiber an und informiert ihn, »beide Pfaffen [gemeint sind Hempel und Ziemer, der Verf.] haben zur Ansammlung gesprochen, die sich danach auflöste; Gen. Modrow habe diese Entscheidung politisch so getroffen und trage die Verantwortung.«
Was Neibers Überzeugung, der Genosse Modrow sei inzwischen ein unsicherer Kantonist, nur bestätigt, denn an diesem 8. Oktober hatten sie sich in Berlin entschlossen, die Krise im Land auf ihre bewährte Art zu lösen, nicht mit Gesprächsbereitschaft, sondern mit der Androhung von Gewalt. Die Befehle, härter gegen Demonstranten durchzugreifen, waren an die zuständigen Dienststellen hinausgegangen. Zu den bekannten Hochburgen der Revolution, Dresden und Leipzig, haben sich besondere Boten in besonderem Auftrag auf den Weg gemacht. Morgen, am 9. Oktober, wollen sie vor Ort eintreffen.
    Modrow weiß noch immer nichts von den Ereignissen auf der Prager Straße und der friedlichen Lösung. Berghofer hat ihn noch nicht erreicht. Kurz nach Mitternacht ruft Modrow endlich an und lässt sich informieren. Die Strategie, miteinander zu reden, statt aufeinanderzuschlagen, unterstützt er. Genosse Wolfgang möge ihn laufend über den Stand der kommenden Gespräche unterrichten Das Ergebnis des Dialogs soll zudem am nächsten Abend in großen Kirchen der Stadt von den Kanzeln herab verkündet werden. Zwei Tage danach sind auch alle »Zugeführten« wieder frei.
    Erich Honecker hätte das alles nicht gefallen. Der Generalsekretär war zwar an Krebs erkrankt und nach einer Operation im August wochenlang ausgefallen, aber jetzt führte er wieder die Geschäfte. Ungebrochen stur – ganz der steinerne Wiedergänger. Dass den Sozialismus in seinem Lauf weder Ochs noch Esel aufhalten könnten und erst recht nicht sein ihm weglaufendes Volk, dem man »keine Träne« nachweinen sollte, weil die Geflüchteten »durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten hätten«, hat er über die staatliche Nachrichtenagentur ADN in allen Zeitungen der DDR verbreiten lassen.Womit er offiziell bestätigte, dass nichts mehr so war, wie es mal war, dass eine Abstimmung mit den Füßen über ihn und das Regime begonnen hatte. Ein halbes Jahr nach den dreist gefälschten Kommunalwahlen belegte das die wahre Stimmung im Volk.
    Worauf Honecker sich bezog, auf die Massenflucht aus seinem
maroden Land, haben alle verstanden. »Wir waren bestens informiert, obwohl wir im sogenannten Tal der Ahnungslosen lebten, wohin ARD und ZDF nicht durchdrangen. Wir waren aufs Radio angewiesen, doch der Rundfunk war in seinen ausführlichen Berichten oft präziser, als es das Fernsehen hätte sein können«, erinnert sich Arnold Vaatz. Er war damals einer der Mitbegründer des Neuen Forums, der bald größten Oppositionsbewegung der DDR, war im Freistaat Sachsen mal Minister für Umwelt und ist heute stellvertretender Vorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion in Berlin.
    Die Erinnerung an jene Tage des endlich erwachten Volkszorns lässt ihn jünger als seine tatsächlichen 55 Jahre erscheinen. Im studierten Mathematiker Vaatz, der seine Worte kühl berechnet, bricht während der Schilderung des so hautnah Erlebten der sächsische Rebell Arnold durch, der den

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