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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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Ankunft in der Bevölkerung verschwanden«, war er im November 1989 per Sonderzug nach Dresden gefahren. Die Loge in der Semperoper, in der Hamburgs Bürgermeister abends als Ehrengast saß, war noch verwanzt wie einst, aber ob am Ende der Abhöranlage noch Lauscher saßen, bezweifelt Voscherau.
    Nach der Aufführung ging er, begleitet vom stellvertretenden Bürgermeister André Lang, durch die Stadt bis zur Kreuzkirche. Auf dem Altmarkt war eine Art Bühne mit vorweihnachtlicher Dekoration errichtet worden, und davor hielten sich viele Menschen auf. »Plötzlich sagte der Lang zu mir, ob ich nicht als Bürgermeister der Partnerstadt ein paar Worte an die Leute richten wollte, womit ich grundsätzlich ja kein Problem hatte außer dem, dass ich mein ganzes Leben lang bis dahin noch nie ein privates Wort mit einem Bürger der DDR hatte wechseln können. Ich wusste also nicht, wie die Leute ticken, wie sie denken, was sie fühlen. Da stand ich nun mit meinem Talent und sollte was sagen, und die Menge wurde immer größer, weil sich die Portale der Kreuzkirche öffneten und viele Dresdner zu ihr stießen.«
    Der begabte Redner schlich sich ans Thema ran, machte zunächst einen kleinen Scherz, dass man vielleicht in neun Monaten einen Hamburg-Dresdener Neubürger begrüßen könne als Symbol einer ganz besonderen Vereinigung dieser Nacht. Lachen und Beifall. Dann erzählte er ein wenig allgemein was von den Segnungen der Demokratie an sich und dass sie die auch bald kriegen würden.
    Großer Beifall.
    »Und dann wagte ich mich auf heikles Terrain. Für mich, sagte ich, sei klar, sie hätten ohne eigene Schuld auf der Schattenseite der Nachkriegsgeschichte leben müssen. Sie seien weniger als wir Westdeutschen, über eine mögliche Einheit müssten sie gerade deshalb ganz allein entscheiden, ob sie die wollen oder nicht.«
    Totenstille.
    »Das hatte fast Gottesdienstcharakter«, sagt Voscherau, schweigt kurz, sucht in abgespeicherter Erinnerung und findet dort seinen damaligen Schlusssatz: »Wenn Sie Ja zur Einheit sagen werden, werden unsere Arme offen sein, wenn Sie jedoch Nein sagen, werden wir Ihnen trotzdem helfen.«
    Jubel.
    Ein solches Volksfest wäre zwei Monate zuvor, da gerade der Herbst begann und die ersten Blätter fielen, undenkbar gewesen. Vopo und Stasi hätten das Volk vom Festplatz gejagt. Die Herrschenden waren noch fest überzeugt, der aufkommende Wind sei nur eine vorübergehende Bö und die Lage ihrer Nation von ihnen bald wieder beherrschbar. Einer glaubte nicht daran, schon lange nicht mehr, obwohl er von Amts wegen zum Glauben verpflichtet war.Wolfgang Berghofer erlebte, wie aus dem Wind ein Sturm wurde, wie die Dämmerung der Halbgötter begann und wie es mit der DDR zu Ende ging.
    Um die Gegenwart zu begreifen, reise ich mit ihm in die Vergangenheit, in den Herbst 1989.

Kapitel 2
    Halbgötterdämmerung
    Um eine Straßenschlacht auszulösen, hätte ein einziger Steinwurf genügt, ein einziger Knüppelhieb, ein einziger Schuss. Dann wären viele Steine geflogen. Dann wären viele Schüsse gefallen. Dann wären aus Seitenstraßen, wo sie seit Einbruch der Dunkelheit lauerten, die bewaffneten Organe mit dem Befehl in die Fußgängerzone Prager Straße geschickt worden, dem Volk aufs freche Maul zu hauen, es zurückzuprügeln in die alte Ordnung.
    Stärker als das Volk waren die im Funktionärsdeutsch so genannten »bewaffneten Organe«, Polizisten, Soldaten und die üblichen Stasi-Büttel in Zivil, allemal noch. Sie hatten ihre Kampfbereitschaft erst vier Tage zuvor schlagkräftig demonstriert. In Erwartung der aus Prag durchfahrenden Flüchtlingszüge, wovon sie aus den Rundfunknachrichten wussten, waren rund zwanzigtausend Menschen Richtung Hauptbahnhof unterwegs. Es gab eine Absprache zwischen beiden deutschen Regierungen, die Züge aus der Tschechoslowakei über Dresden und das Gebiet der DDR zu lenken. Bevor sie auf westdeutsches Gebiet fuhren, wurden an der Grenze alle Ausweise eingesammelt. Wer sich für ein Leben in der Bundesrepublik entschieden hatte, verlor seine DDR-Staatsbürgerschaft. Mit diesem Verlust konnten die Betroffenen aber leicht leben. Tränen flossen erst bei der Ankunft drüben – Freudentränen.
    Aus der ganzen Republik, nicht nur aus Sachsen und Dresden, sind sie an diesem Abend des 4. Oktober 1989 in Massen zum Bahnhof gezogen, mit Rucksäcken, mit Koffern und mit ganz bestimmten Absichten. Sie besaßen zwar keine Fahrkarten, aber sie
wollten unbedingt die Züge

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