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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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ihre Angst. Der brutale Einsatz von Armee und Polizei am Hauptbahnhof, die Misshandlungen der Zugeführten hatten ihren Mut nicht gebrochen. Im Gegenteil. Für viele, die sich bislang abwartend verhielten, so wie sie es in vielen Jahren der Diktatur eingeübt hatten, waren die Zuführungen der entscheidende Anstoß, auf die Straße zu gehen und sich einzumischen.
    Entsprechend aufgeladen ist am Abend des 8. Oktober die Stimmung in der Prager Straße, die zum Hauptbahnhof führt. Auf der einen Seite Bürger, auf der anderen Seite Uniformierte, unter ihnen auch Schläger in Zivil, Stasi-Büttel. Alle bereit zur Attacke. Aus verdunkelten Zimmern in den obersten Stockwerken des Hotels »Newa«, von denen aus die Fußgängerzone einsehbar ist, werden sie von der Staatssicherheit gefilmt. Das wissen alle. Es ist ihnen egal. Sie fürchten sich nicht mehr. Die können ja nicht alle einsperren.
    Noch wirft keiner einen Stein, noch fällt kein Schuss. »Keine Gewalt« ist nach dem berühmt-trotzigen Sprechchor »Wir sind das Volk« die zweite wesentliche Parole dieses deutschen Herbstes, von dessen Stürmen das System innerhalb weniger Wochen weggefegt wird. Die dritte, »Wir bleiben hier«, gilt allerdings nur noch unter der Bedingung, dass die DDR, so wie sie ist, nicht bleibt. An diesem Sonntagabend spielt zwar die Vernunft eine Rolle auf der Bühne des Volkes, der Straße, es spielt aber auch der Zufall mit. Etwa tausend Dresdner sitzen seit Stunden auf kalten Steinplatten im Polizeikessel. Ihr Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer, fünfhundert Meter Luftlinie entfernt in seinem Arbeitszimmer im Rathaus, hört immer wieder in Abständen, gedämpft durchs geschlossene Fenster, den Ruf der Demonstranten, sie seien das Volk.
    Nach den ersten stillen Montagsdemonstrationen von Leipzig ist mittlerweile das Volksaufbegehren landesweit unüberhörbar. Die Halbgötterdämmerung hat begonnen. Auch die bisher nur unter der Obhut der Kirchen agierenden Frauen-, Umwelt-,
Friedensgruppen lassen sich nicht mehr einschüchtern durch staatliche Überwachung. Dass die geheime kommunistische Staatspolizei sogar Geruchsproben von ihnen in Einweckgläsern archiviert hat, erfuhren sie erst nach der Revolution.
    Die Bürgerrechtler, bislang allenfalls in ihrer Gruppe unter ihrem jeweiligen Motto aufgetreten, mit doppeldeutig frechen Sprüchen – »Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom« oder »Lieber Wanzen im Bett als in der Wand« – einmal pro Jahr in der Friedenswerkstatt der Ostberliner Erlöserkirche, hatten zwischen Anfang Juli und Ende September 1989 ein Netzwerk von Unterstützern ausgebaut. Durch das Westfernsehen werden sie genau informiert über die Massenflucht ihrer Landsleute nach Ungarn, über die gefälschten Ergebnisse der letzten Kommunalwahlen, hatten vor allem gesehen, wie die Panzer auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking den Protest der Studenten niederwalzten. Auf ihre Art, in trotziger Ausübung ihres Berufes auch gegen alle Versuche, sie daran zu hindern, helfen viele Korrespondenten mit, das Regime der alten Männer zu entlarven.
    Die Bilder waren wirksam, denn diese Bilder bewirkten mehr als Worte. Sie blieben in den Köpfen auch dann, als die von der Staatssicherheit wieder mal auf die Köpfe eindroschen. Das Meinungsmonopol hatte die SED eh längst verloren. So hoch konnte sie keine Mauer bauen, um Wellen aus dem Äther zu brechen. Ostdeutsche wussten erstens, was tatsächlich draußen und drinnen passierte, obwohl in ihrer Presse und in ihren Sendern nie darüber berichtet wurde. Sie wussten zweitens, drüben im Westen war das Leben sichtbar schöner als das Leben bei ihnen. Sie glaubten aber bislang drittens, dass sie gezwungen sein würden, sich mit und in ihren Verhältnissen zu arrangieren, weil ihre Sehnsucht nach einem selbst bestimmten besseren Leben unerfüllbar zu bleiben schien.
    Plötzlich schien der Horizont nicht mehr fern, sondern nah. Sie behielten ihn im Auge. Die Sehnsucht wärmte sie. Die Hoffnung stärkte sie. Die Freiheit lockte sie.
    Die Revolution beginnt.
    So unterschiedlich ihre Anliegen auch sein mochten, so einig waren sie sich im Ziel. Sie stellten zwar noch nicht den Staat an sich in Frage, aber das bisherige System, nach dem er funktionierte. Sie forderten offen von den Funktionären ihre Rechte ein, wollten frei nach Karl Marx, einem der Säulenheiligen des Systems, den versteinerten Verhältnissen ihre eigene Melodie vorspielen und sie so zum Tanzen bringen. Die

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