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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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sich entschlossen, »heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger möglich macht, über Grenzübergänge der DDR auszureisen«?
    Was? Jetzt? Sofort? Auch über Westberlin?
    Schabowski zieht einen Zettel aus der Tasche, und nachdem er den verlesen hat, existiert die Mauer, die seit 13. August 1961 das Leben der Deutschen teilte und an der so viele ihr Leben verloren, praktisch nicht mehr. »Das tritt nach meiner Kenntnis, äh, ist
das sofort, äh, unverzüglich.« Als der Korrespondent von NBC ungläubig nachfragt, ob dies denn »freedom of travel« bedeute, ergänzt Schabowski, der bis dahin genau 31-mal »äh« gesagt hat, »yes, of course« sei das so. »It’s not a question of tourism, it’s a permission of leaving the GDR.« Von da an laufen im Rundfunk wie im Fernsehen Blitzmeldungen, dass ab sofort die Mauer geöffnet sei. Das Volk will es selbst sehen und macht sich auf den Weg. So beginnt in Berlin die Nacht der Deutschen.
    Sie ist Geschichte, bekannt und nachlesbar.
    Ich suche nach anderen Geschichten aus dieser Nacht.
    Gregor Gysi schläft längst, als bei ihm das Telefon klingelt. Am anderen Ende seine damalige Lebensgefährtin. »Sie sagte, Gregor, die Mauer ist auf.« Und er entgegnete mürrisch verschlafen: »Es ist zwei Uhr nachts, ich habe morgen früh einen wichtigen Prozesstermin, ich bin nicht aufgelegt für Scherze.« Sie: »Gregor, mach das Fernsehen an. Es stimmt.« Er legt auf, stellt den Fernsehapparat an und sieht die Massen tatsächlich durch die geöffneten Übergänge strömen und weiß, dies ist das Ende der DDR, und schon wieder klingelt das Telefon: »Gregor, los, wir machen rüber.« Er will nicht, denkt als Jurist schon weiter: »Wenn man eine Mauer so einfach uffmachen kann, dann kann man sie auch wieder dichtmachen. Zum Dichtmachen, das wusste ich, haben sie nicht mehr die Kraft, dafür ist die Bewegung zu groß, aber eine gesetzliche Grundlage, dass sie offen bleibt, die hätte ich ganz gern gehabt.« Dann geht er wieder ins Bett.
    Richard Schröder saß am Schreibtisch. Er hatte gearbeitet und nichts mitgekriegt von dem, was draußen passierte. Dass sich grundsätzlich etwas ändern würde, daran hat er geglaubt, was »damit zusammenhing, dass Honecker hinfällig war, was wir ja wussten«. Als Hoffnungsträger galten sowohl Hans Modrow als auch Markus Wolf. Er ging am nächsten Tag mit einem Freund rüber. Aber dessen Frau blieb lieber zu Hause, sie hatte Angst, dass die Mauer wieder geschlossen würde. Diese Angst bewegte viele. Dass es nicht so kam, »verdanken wir offenbar auch der Tatsache, dass Gorbatschow bei Margret Thatcher und bei George
Bush und bei Helmut Kohl angerufen und gefragt hat, wie sie die Lage einschätzen. Und alle geantwortet haben sollen: ein Volksfest. Keine Gefahr.« So zumindest habe es ihm Kohl mal erzählt.
    Egon Bahr hat sich an diesem Donnerstagnachmittag aus dem Bundestag in Bonn verabschiedet, auf der Tagesordnung des Parlaments stand seiner Ansicht nach nichts Weltbewegendes mehr. Erst abends schaltet er zu Hause den Fernsehapparat an und sieht die Welt Bewegendes – tanzende Menschen auf der Mauer, sich umarmende Deutsche aus Ost und West. »Mein erster Gedanke war, dies ist das Ende der DDR. Der zweite: dass mein Vater dies nicht mehr erleben durfte.« Dann klingelt auch bei ihm das Telefon. Dran ist Willy Brandt.
    Weißte, was los ist?
    Ja.
    Staunste, was?
    Ja.
    Hättste nicht geglaubt, was?
    Nee.
    Walter Momper, Regierender Bürgermeister von Westberlin, bat den Mann, der einst am 13. August 1961 im Namen seiner Berliner eine große Rede gegen die Zonenbaumeister gehalten hatte, am Tag darauf bei einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus zu sprechen. Sein Freund und Wegbegleiter Egon Bahr soll mitkommen. Macht der natürlich. Im Flugzeug von Köln-Bonn nach Berlin schreibt Willy Brandt ein paar Stichworte auf und notiert die wie gewöhnlich auf kleinen rechteckigen Karten. Darunter jenen Satz, der dann am Freitagabend bejubelt und glückselig beweint wird und der die Gefühle fast aller Deutschen trifft: »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.«
    Das Zusammenwachsen wird länger dauern als damals gedacht und ist fast zwanzig Jahre nach dem Mauerfall noch lange nicht vollendet.
    Es hätte allerdings auch schon zwei Tage später wieder vorbei sein können mit dem Zusammenwachsen in Einheit. Verteidigungsminister Heinz Kessler hatte am 10. November seinen
Generalstab versammelt und angekündigt, er werde morgen

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