Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
Umbruchszeit: »Die DDR-Zeitungen sind von westdeutschen Verlagen recht leichtfertig übernommen worden. Fragen nach der Vergangenheit wurden selten gestellt. Die hohen Auflagen der SED-Blätter und ihre Monopolstellungen müssen
eine ungeheuer faszinierende Anziehungskraft auf die Branche im Westen gehabt haben.«
Westdeutsche Reporter warten an diesem 7. Dezember 1989 ebenso auf Informationen wie das lärmende Volk. Handys gab es damals noch nicht. Es ist kalt draußen vor der Tür. In zweieinhalb Wochen ist Weihnachten, die niedrigen Temperaturen sind also normal für diese Jahreszeit. Das Dietrich-Bonhoeffer-Haus in der Ziegelstraße 30, das der Herrnhuter Gemeine gehört, ist abgeschlossen. Drinnen im Betsaal laufen letzte Vorbereitungen für diesen historischen Tag, an dem die erste Sitzung des Zentralen Runden Tisches der DDR stattfinden wird.
Hektisch geht es zu. Der Raum ist zwar groß genug für die angemeldeten Gäste, die nicht zum Beten kommen werden, aber beim Blick nach draußen ist denen drinnen klar: Es kann trotzdem verdammt eng werden. Noch einmal wird nachgezählt, ob genügend Stühle am Tisch bereitstehen für die Delegierten. Fünfunddreißig braucht man laut vorliegender Liste. Drei fürs Präsidium, das am Kopfende sitzen soll, direkt unterm Adventsstern, der hinter ihnen an der Wand hängt, fünfzehn für die Vertreter der »neuen Kräfte« und fünfzehn für die der »alten Kräfte«, zwei für die Pressesprecher.
Zu den neuen Kräften gehören Oppositionelle der Bürgerrechtsbewegung. Die »Initiative Frieden und Menschenrechte«, bereits 1985 gegründet und regelmäßig von den herrschenden SED-Reaktionären als konterrevolutionäre Vereinigung verfolgt. Das »Neue Forum«, erst zehn Wochen zuvor geboren, aber schon prächtig entwickelt. »Demokratie Jetzt« und »Demokratischer Aufbruch«, beide Mitte September mit Aufrufen an die Öffentlichkeit getreten. Die »Grüne Partei«. Die »Sozialdemokratische Partei« SDP. Die »Vereinigte Linke«.
Die alten Kräfte, das sind die Vertreter der Nationalen Front, angeführt von der SED. Mit ihr auf Linie die CDU, die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD), die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD), die National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD). Ihre unterschiedlich klingenden
Namen täuschten höchst unterschiedliche Programme vor, aber es handelte sich bekanntlich nur um unterschiedlich große Brüder und Schwestern unter gleich geschnittenen Kappen. Doch deren einheitliche Kopfhaltung Richtung SED hat sich verändert, seit Lothar de Maizière im November zum Vorsitzenden der Blockpartei CDU gewählt worden war. Gern erinnert er sich heute in stiller Freude daran, wie dem damals noch an seine Zukunft glaubenden Egon Krenz das Dauergrinsen auf den Lippen gefror, als er, der neue CDU-Chef, in der ihm eigenen Ironie dem Krenz mitteilte, dies sei ein ganz besonderer Tag.Warum? Ab sofort müsse der sogenannte Demokratische Block ohne die CDU auskommen, ab jetzt gelte, jeder kämpft für sich allein. Die LDPD schloss sich an, DBD und NDPD folgten drei Tage darauf.
Für die Kräfte aus der Einheitspartei war der nächste Tag wichtiger als der heutige. Sie bereiteten die Hauptversammlung ihres einst Volkseigenen Betriebs vor. Denn für den 8. Dezember ist, nicht weit entfernt vom Dietrich-Bonhoeffer-Haus, im Palast der Republik, für dessen Bau Honecker nichts zu teuer war, einschließlich des Marmors aus Italien, den Schalck-Golodkowski heranschaffen musste, ein Sonderparteitag der SED anberaumt. Wolfgang Berghofer und Gregor Gysi haben sich gleichwohl für den Runden Tisch angemeldet. Sie wissen schon, was morgen passieren wird. Sind zwar keine Propheten, aber kennen aus vielen Jahren der aktiven Selbstbeteiligung die Gewohnheiten ihrer Genossen. Nach heftigen Debatten hatte sich ein 23-köpfiger Arbeitsausschuss darauf geeinigt, den Rechtsanwalt Gregor Gysi als künftigen Parteichef vorzuschlagen.
Dass die Mehrheit diesem Vorschlag folgen würde, bezweifelte niemand. Gegenkandidaten gab es nicht. Solche demokratischen Unsitten waren verpönt in der SED. Immerhin sollte als äußeres Zeichen für die Ernsthaftigkeit der öffentlich bekundeten Einsicht in diese oder jene Fehler der Vergangenheit dem unpopulären Namen ein nach Aufbruch klingender Zusatz angehängt werden, PDS, Abkürzung für »Partei des Demokratischen Sozialismus«. Im Februar 1990, rechtzeitig vor der Wahl, wurde
die SED endgültig beerdigt.
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