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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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Einheiten nach Berlin schicken, um die Grenze wieder dichtzumachen. Angeordnet hatte er »volle Gefechtsbereitschaft für die 1. Motorisierte Schützendivision Potsdam«, zu der fünftausend Soldaten mit Schützenpanzern gehörten. Schweigen bei den hohen Offizieren. Ob die Soldaten einen solchen Befehl überhaupt befolgen würden, wagte niemand vorauszusagen. Ins versammelte Schweigen hinein steht Generaloberst Joachim Goldbach auf, stellvertretender Minister für Nationale Verteidigung, zögert keinen einzigen Moment und sagt dann mit lauter Stimme, nie hätte er geglaubt, dass er mal in eine solche Situation kommen könnte, aber falls Kessler tatsächlich den Befehl erlasse, werde er dafür sorgen, dass der nicht befolgt wird. Dann setzte er sich wieder hin. Die Mehrheit der Offiziere stand auf seiner Seite. Sie hatten auf ein solches Wort nur gewartet.
    Fast ein Held, der Goldbach.
    Die eigentlichen, die wahren Helden der Revolution, die sind längst vergessen. Zu denen fahre ich.

Kapitel 3
    Vergessene Helden
    Vor der Tür lärmen Frauen. Schlagen auf Topfdeckel. Verlangen Einlass. Demonstranten solidarisieren sich. Fernsehteams aus West und Ost filmen. In diesen Tagen spontaner Rebellionen ist jede Forderung des auferstandenen Volkes für alle Sender interessant. Auch für die bisher unter strenger Zensur sendenden Programme des DDR-Staatsfernsehens. Dessen junge Reporter spielen mit bei der anschwellenden Revolution und recherchieren Fakten, statt sich wie bisher vorschreiben zu lassen, was angeblich Fakt war. In der gleichgeschalteten Parteipresse trauen viele der neuen Freiheit noch nicht und kommentieren lieber voller Sorge die unsichere Lage ihrer Nation, statt die finstere Vergangenheit umzugraben und vom Regime verscharrte Leichen auf Seite eins zu heben. Ihre Neigung, die Welt tief grübelnd zu deuten, am eigenen Weltbild ausgerichtet zu erklären, statt ihre Leser gnadenlos über die bleierne Zeit aufzuklären, pflegen viele ostdeutsche Redakteure bis heute. Zu lange hatten sie keine eigene Meinung äu ßern dürfen, nun holen sie das Versäumte täglich nach.
    Die Presselandschaft Ost lag brach wie ein weites Feld. Gut ausgerüstete Landschaftspfleger rückten an. Westdeutsche Großverlage nutzten die offenen Grenzen, um ihre bisher verbotenen Zeitungen und Magazine drüben anzubieten. Rechtliche Grundlagen gab es dafür keine, aber davon ließen sie sich beim Pflügen nicht abhalten. Für sie galt, was Gorbatschow beim Abflug ein paar Wochen zuvor dem Genossen Erich Honecker als Mahnung hinterlassen hatte: dass vom Leben bestraft werde, wer zu spät komme: »Bunte« und »Stern«, »Spiegel« und »Zeit«, »Bild«
und »Bravo« fanden reißenden Absatz, wurden oft sogar direkt von Lastwagen herunter verkauft oder einfach im kleinen Grenzverkehr vertrieben wie beispielsweise zwischen Nürnberg und Gera, wo der DDR-Bürgermeister kurzerhand den Import der »Abendzeitung« aus dem Westen zum Preis von 1,50 Ostmark genehmigte. Der »Spiegel« kostete 13,50, der »Stern« 11,40 und »Bild« 1,40 Mark.
    Daraufhin verlangte ein DDR-Regierungssprecher im Gegenzug, »dass auf dem Markt der Bundesrepublik auch unsere Presseerzeugnisse vertrieben« werden dürften. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dies keine Frage des Vertriebs war, weil auf dem Meinungsmarkt alle mitmachen dürfen, sondern an mangelnder Nachfrage im Westen scheitern könnte. Auch in der dann freien Medienlandschaft des Ostens verdorrten im Laufe der Einheit die früher beim Volk begehrten Blüten des sozialistischen Journalismus – »Für Dich« und »Wochenpost«, »Horizont« und »FF dabei«, »Neue Zeit« und »Der Morgen« und das berühmte Blättchen »Frösi« , Abkürzung für »Fröhlich sein und singen«, Auflage 500 000.
    Die Treuhandanstalt erlöste beim Verkauf der Zeitungen und Magazine an verschiedene mittlere und große Verlage rund 850 Millionen D-Mark. Allein der SED gehörten siebzehn Tageszeitungen, Gesamtauflage 9,7 Millionen, die allerdings am Kiosk nie miteinander konkurrieren mussten, weil in allen grundsätzlich das Gleiche drinstand und die Chefredakteure ihre Anweisungen vom Presseamt bekamen. Die Westdeutschen schluckten das Personal gleich mit, und so manche Inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit stießen ihnen dann, als sie enttarnt wurden, deshalb bitter auf.
    Als im März 2008 bei der renommierten »Berliner Zeitung« solche Altlasten auftauchten, erinnerte Marianne Birthler deshalb an die wilde

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