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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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verquaste Sprache, die alle hohen SED-Funktionäre pflegten, doch Krenz interpretiert diese so, dass damit am 9. Oktober ein Blutbad verhindert worden sei. Vier Tage später flog er zusammen mit hohen Militärs und Stasi-Kadern nach Leipzig, um sich mit der Einsatzleitung vor Ort zu beraten. Dabei wurde festgelegt: »Polizeiliche Mittel dürfen nur angewandt werden zum Schutz von Personen und Objekten, wenn Gewalt von der anderen Seite eingesetzt wird. Zweitens: Der Gebrauch der Schusswaffe ist unter allen Bedingungen zu verhindern, zu verbieten.«
    Eine Woche später tritt Erich Honecker als SED-Generalsekretär und Vorsitzender des Ministerrates zurück. Angeblich aus gesundheitlichen
Gründen, wie er zu seiner Überraschung erfährt. Erich Mielke: »Wir haben vieles mitgemacht. Wir können doch nicht anfangen, mit Panzern zu schießen. Erich, es ist Schluß.« Der steht auf vom Tisch seiner Tafelrunde, erklärt noch einmal, er gehe nicht als geschlagener Mann, sondern »als Genosse bei voller Gesundheit«, aber tief getroffen vom Verrat, wie er sagt, und verlässt den Saal. Den Kampf im Politbüro um die Nachfolge gewinnt Egon Krenz. Er wird sich nicht lange daran freuen können. Beim Volk hat er schon verloren, als er seine erste Ansprache in der neuen Funktion so beginnt: »Liebe Genossinnen und Genossen«. Die Antwort, die er auf Spruchbändern bekommt, ist deutlich: »Die Perestroika in ihrem Lauf halten weder Ochs noch Egon auf.«
    Dass am Ende sogar die im Land verbliebenen Intellektuellen, die sozialistischen Eliten der DDR, in ihrem Aufruf »Für unser Land« Reformen verlangten, um ihren Staat in Resten zu retten, ist heute nur noch eine Fußnote der Geschichte. Das gemeine Volk hatte restlos die Schnauze voll, wollte von geläuterten Krenz-Gängern nichts mehr hören. Christa Wolf sprach ihnen aus dem Herzen bei einer Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz, wo sich am 4. November eine Million Menschen versammelten: »Mit dem Wort ›Wende‹ habe ich meine Schwierigkeiten. Ich sehe da ein Segelboot, der Kapitän ruft: Klar zur Wende, weil der Wind sich gedreht hat, und die Mannschaft duckt sich, wenn der Segelbaum über das Boot fegt. Stimmt dieses Bild? … Verblüfft beobachten wir die Wendigen, im Volksmund ›Wendehälse‹ genannt. Sie am meisten blockieren die Glaubwürdigkeit der neuen Politik... Vorschlag für den 1. Mai: Die Führung zieht am Volk vorbei. Dies ist für mich der wichtigste Satz dieser letzten Wochen – der tausendfache Ruf: Wir – sind – das – Volk. Eine schlichte Feststellung. Die wollen wir nicht vergessen.«
    Die neue Gangart, auf Augenhöhe mit der Staatsmacht, macht den Kopf frei für Fantasie. Statt der üblichen Parolen an den üblichen Aufmarschtagen, die den Sieg des Sozialismus beschworen, stehen jetzt Hohn und Spott und Witz auf vielen Spruchbändern,
die hochgehalten werden: »China, Knüppel,Wahlbetrug, Egon Krenz, es ist genug – Visafrei bis Hawaii – Statt Phrasnost Glasnost – Rücktritt ist Fortschritt – Krenz Xiao Ping – Kein Artenschutz für Wendehälse – Entsesselt die Ärsche – Das war das Hemd, jetzt wollen wir die Hose!«
    Die holen sich die Bürger fünf Tage später.
    Wieder spielt, wie in Dresden vier Wochen zuvor, der Zufall eine Rolle. Diesmal steht die Bühne in Berlin. Auf dem Podium sitzt, umgeben von den üblichen Graugesichtern, das Politbüromitglied Günter Schabowski, als SED-Chef von Ostberlin qua Amt verantwortlich für die Knüppelorgien zum 40. Jubiläum der DDR. Im Parkett drängeln sich Journalisten aus vielen Ländern. Der Korrespondent der italienischen Nachrichtenagentur ANSA, Riccardo Ehrmann, hat vor dem Pressezentrum keinen Parkplatz gefunden, ist deshalb zu spät bekommen, findet keinen freien Stuhl mehr. Also kauert er sich, Blick auf die Kollegen im Saal gerichtet, praktisch zu Füßen von Schabowski vor der Bühne auf den Boden
    Die Pressekonferenz fließt zäh dahin. Gerade weil derzeit drau ßen alles so spannend ist, sind Antworten, die Schabowski gibt, längst von der Wirklichkeit überholt. Ehrmann hat nichts auf seinem Block, was eine Meldung wert wäre. Kurz vor 19 Uhr richtet er sich auf, schaut Schabowski an und fragt in fast perfektem Deutsch, ob das vor zwei Tagen von der Regierung vorgelegte neue Reisegesetz nicht viel zu bürokratisch angelegt, also ein großer Fehler, sei? Schabowski labert irgendwas, doch plötzlich wird es still im Saal. Hat der wirklich gerade gesagt, die Regierung habe

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