Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
Allerdings nur im Namensregister gelöscht. Ihr Geist schwebt heute noch über allen Gräbern und Gräben. Wolfgang Berghofer war lange Zeit der Genossen Wunschkandidat für den Posten des Vorsitzenden gewesen, doch er wollte nicht antreten. »Könnt ihr vergessen, das ist nicht meine Welt.« Aber er müsse sich stellen, erwiderten sie: »Wolfgang, du musst, du bist populär, die Leute vertrauen dir.«
Und wie hat er es schließlich geschafft, den ihm dargebotenen Kelch an Gysi weiterzureichen?
Berghofer grinst und blickt zurück in die Vergangenheit. Der Gregor habe bei einer der vielen Vorbesprechungen im Großen Haus eine zündende Rede gehalten, aus dem Stegreif, was er damals schon so gut konnte wie heute, und »die Begründungen geliefert, warum ich das machen soll. Ich habe dann gesagt, Gregor, hervorragende Rede, setz deinen Namen ein statt meinem, und dann stimmt alles.« Woraufhin Gysi gesagt habe, okay, dann mache er das halt. »Damit war die Machtfrage personell geregelt.«
So war es tatsächlich. Nach der Abstimmung wurde dem Vorsitzenden der Partei SED-PDS ein großer Besen auf die Bühne gereicht, mit dem Gregor Gysi den verdreckten SED-Stall ausfegen sollte. Sein gewählter Stellvertreter Berghofer hat sofort an der hehren Absicht gezweifelt, gründlich auszumisten. Symbolisch wirksam die Geste, das ja. Aber schon bei der Fortsetzung des Parteitages am 18. und 19. Dezember, den Berghofer noch leitete, war ihm klar, »die Jungs wollten in Wahrheit überhaupt nichts Neues«. Deren Motiv war, Zeit zu gewinnen, um die Bevölkerung zu beruhigen.
Doch jetzt, an den Runden Tisch, werden Gysi und Berghofer noch schreiten Seit’ an Seit’ und die Interessen ihrer Partei wahrnehmen. Ein Platz für lärmende Feministinnen ist nicht vorgesehen, weil keiner der drei Geistlichen, die im Namen des Herrn – dieser hier vertreten durch die evangelische Kirche, die katholische Kirche, die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen – zur ersten Sitzung in Berlin Mitte in der Nähe des Friedrichstadtpalastes geladen hatten, den feministischen Unabhängigen Frauenverband
für relevant hielt.Von dem haben sie bislang noch nie etwas gehört.Was man ihnen nicht vorwerfen kann, denn es gibt ihn erst seit drei Tagen. Jetzt ist der unüberhörbar.
Sich zu täuschen, statt wie früher andere zu täuschen, gehört im Dezember 1989 zum Alltag. Was gestern galt, ist morgen ein Muster ohne Wert, wer heute unwichtig scheint, kann übermorgen mächtig sein und umgekehrt. Hans Modrow, der noch vorgestern, von Wolfgang Berghofer gedrängt, den Dialog mit jener Gruppe der Zwanzig übte, die spontan von den Demonstranten in der Prager Straße als ihre Abordnung ausgesucht worden war, hatte sich in Dresden nicht mal von seinen engsten Mitarbeitern und seiner Sekretärin Bärbel Otto so verabschieden können, wie »es der Anstand und die gewachsene Nähe zwischen uns geboten hätten«, weil er gebraucht wurde in Berlin als Ministerpräsident, nachdem Willi Stoph endlich seinen Widerstand gegen einen freiwilligen Rücktritt aufgegeben hatte.
Altkader wie er waren bereits auf der Flucht oder vorläufig abgetaucht, auf jeden Fall bedeutungslos, als der Betsaal hergerichtet wurde – Honecker weg, Mielke weg,Tisch weg, Sindermann weg, Axen weg, Mittag weg. Der ist wegen »gröblichster Verstöße gegen die innerparteiliche Demokratie«, als ob es in dieser Partei je eine gegeben hätte, »gegen die Partei- und Staatsdisziplin sowie Schädigung der Partei« aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen worden und kurz darauf auch aus der Partei. Der Senat der Technischen Universität Dresden folgte dem Beispiel und erkannte Mittag bereits am 1. Dezember die Ehrendoktorwürde ab. Wie damals bei der Verleihung im Oktober 1986 wurde der Beschluss auch diesmal einstimmig gefasst. Noch vor einem halben Jahr bestimmte Mittag, was Wirklichkeit war, auch wenn die mit der Realität nichts gemein hatte. Für den Etat 1988 ließ er die Statistiken so lange frisieren, bis der Staatshaushalt glänzte und die Zahlen nicht mehr tiefrot waren, sondern schwarz. Bei der fälligen Vorlage in der Volkskammer entsprach der Ist-Zustand dann dem Plan-Soll.
Wie gewohnt alles gelogen.
Das wusste natürlich der für diese Misswirtschaft verantwortliche
Minister. Aber auch alle anderen im SED-Politbüro hatten die »Geheime Verschlusssache b5 1158/89« unter dem nicht so prickelnden Titel »Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen« gelesen,
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