Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
bekämen und dabei feststellen würden, wer sie einst wann belauscht und denunziert hatte. Die Lust der Opfer, sich an denen zu rächen, die ihr Leben zerstört hatten, wäre zwar verständlich, aber selbstverständlich nicht akzeptabel. Gegen diese Art von Vergangenheitsbewältigung protestierten jedoch viele Bürgerrechtler, besetzten vier Wochen vor dem Tag der deutschen Einheit noch einmal demonstrativ das ehemalige Ministerium für Staatssicherheit, bis der entsprechende Paragraf doch wieder im Einigungsvertrag stand und ab 3. Oktober 1990 Gesetz war. Die Gauck-Behörde sei eine Frucht der friedlichen Revolution, umschreibt das in bildhafter Sprache Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse von der SPD, denn es gebe »weltgeschichtlich keine andere Diktatur, die so schnell so gründlich erforscht wurde«.
Marianne Birthler, Bürgerrechtlerin und im ersten Kabinett Stolpe bis 1992 Ministerin für Bildung, heute Herrin der Archive, nimmt drei Bissen vom Teller, der auf dem Tisch vor ihr steht – ein Stück Apfel, ein Stück Orange, eine Kiwi, nein, keine Banane -, und lacht. »Die im Westen wollten natürlich keine Behörde so wie die, die ich jetzt leite. Sie wollten die Aktendeckel schließen und einen Schlussstrich.Wir haben uns durchgesetzt in der Volkskammer, aber auch mit Hilfe des Drucks von außen. Es war einer der seltenen Momente, da Volk und Volksvertreter eine Einheit waren. Vom Stasi-Unterlagengesetz mitsamt der dazugehörigen Behörde waren keineswegs alle Bundestagsabgeordneten überzeugt
– manche sahen darin eher ein Zugeständnis an die ehemaligen Bürgerrechtler.« Einmal begegnete sie bei einem Klassentreffen einem Mitschüler, der früher für das MfS gearbeitet hatte. »Das war schon eine Begegnung der dritten Art. Ansonsten habe ich zu diesen Kreisen keinen Kontakt.«
Die Behörde leitet Marianne Birthler seit 2000. Sie und ihr Vorgänger Joachim Gauck waren bzw. sind Idealbesetzungen für das unbeliebte und nach wie vor so nötige Amt: Ostdeutsch. Liberal. Nachdenklich. Unbestechlich. Der Rostocker Pfarrer Gauck, Abgeordneter des Neuen Forums in der Volkskammer, bekam bei Dienstbeginn den etwas umständlichen Titel eines »Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik« und damit die Aufsicht über gut 180 Regalkilometer Akten der Stasi. In denen begann – und dies dauert bis heute an – die Suche nach dem widerlichen Bodensatz der roten Diktatur, ihren heimlichen Zuträgern.
Berichtet haben diese Denunzianten über Missliebige, über den »sympathischeren Teil der DDR-Bevölkerung. Leute, die unangepasst waren, widersprochen haben, die Widerstand geleistet oder sich geschickt entzogen haben, wenn das MfS sie anwerben wollte« (Birthler), womit ausgerechnet anhand der Stasi-Akten beweisbar ist, dass die Deutschen drüben eben kein einig Volk von Denunzianten, Verrätern, Spitzeln waren. Daraus schöpft Marianne Birthler dann auch wieder Kraft, wenn sie wieder mal fassungslos vor den Beweisen der systematischen Gnadenlosigkeit steht, mit der die Stasi Menschen zerstört hat, die sich gegen ihr System auflehnten.
Die Täter wollten früh schon diese Vergangenheit entsorgen. Der letzte Chef des Amtes für Nationale Sicherheit, Generalleutnant Wolfgang Schwanitz, hatte bereits im November 1989 eine passende Lösung des Problems zu Protokoll gegeben, wie sich Jahre später bei Durchsicht von Dokumenten und Protokollen der Regierung Modrow herausstellte. »Was das Vernichten anbetrifft, Genossen, besonders in den Kreisdienststellen. Macht das wirklich sehr klug und sehr unauffällig. Wir werden stark kontrolliert
... Also realisiert die Aufgaben klug und so, wie sie angewiesen werden. Es hat keinen Zweck, einen Haufen Papier mitzuschleppen, der uns in der gegenwärtigen und künftigen Zeit nichts nützt.« Insbesondere seien alle Mitarbeiter »zur unbedingten Geheimhaltung über die Vernichtung bzw. Auslagerung von registrierten Vorgängen und Akten... anzuhalten«.
Die Politbürokraten nannten das unter sich eine »Politik der Reißwölfe«. Bevor die Spur der Wölfe entdeckt wurde, hatten sie bereits rund hundert Lastwagen voller Material in eine Papiermühle schaffen und dort zermalmen lassen. In der Normannenstraße wurde zusätzlich Handarbeit geleistet, Tag und Nacht, bis die in der Stasi-Zentrale fest installierten Reißwölfe wegen der Massen, die in sie gestopft wurden, ihren Betrieb
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