Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
wiederfanden«.
Neuerliche Vorwürfe der Birthler-Behörde gegen Gysi, erhoben im Mai 2008, aktiv für die Stasi gearbeitet zu haben, wies der erneut zurück: »Ich habe immer direkt mit dem ZK geredet und dort nur das gesagt, was ich vorher mit meinen Mandanten abgesprochen habe. Ich bin immer Anwalt geblieben. Ich war auch Genosse und habe mit dem Mann im ZK auch politisch geredet, sozusagen von Genosse zu Genosse. Aber ich habe dabei niemals die Interessen meiner Mandanten verletzt.«
Zur Zukunft eines Volkes gehört seine Vergangenheit. Eine Binse. Wer sie verharmlost, wird irgendwann von ihr eingeholt. Verharmlosung kann sich äußern im Leugnen der im Zweifelsfall stets unerbittlichen Diktatur, kann sich auch zeigen in scheinbar lächerlichen Kleinigkeiten. 2007 beschloss ein Ort im Oderbruch, eine neue Straße, gebaut aus Mitteln des Aufbaus Ost, nach dem ehemaligen DDR-Staatspräsidenten Wilhelm Pieck, einem überzeugten Stalinisten, zu benennen. Es gab im Gemeinderat keine Gegenstimme.
Das heutige Verschweigen und Verdrängen des Unsäglichen ist – nicht nur, aber eben auch – aus der gesellschaftspolitischen Realität der DDR erklärbar. 2,1 Millionen Ostdeutsche, die meisten Angehörige der im Arbeiterparadies unerwünschten bürgerlichen Elite, sind vor dem Mauerbau Richtung Westen in die Eigenverantwortung geflüchtet. Ohne sie dauert es entsprechend lange, eine bürgerliche Zivilgesellschaft Ost neu aufzubauen. Die wächst allmählich in Städten wie Dresden, Leipzig,Weimar, erst recht in Potsdam. Wo aber eine Zivilgesellschaft fehlt, zum Beispiel diesseits oder jenseits von Potsdam im Bundesland Brandenburg, ist die politische Landschaft verdorrt, oder sie wird gedüngt von roten und braunen Populisten.
In den Akten sind aber nicht nur die heute so vergesslichen Jasager des früheren Systems verzeichnet, sondern auch die unvergesslichen Neinsager. Nach der gelungenen Revolution ist es deshalb der zweite historische Sieg der DDR-Bürgerrechtler, dass sie die systematische Vernichtung von Akten stoppten, von denen schon Tausende im Reißwolf gelandet waren, und die Auferstehung eines gerade beerdigten Paragrafen durchsetzten. In der frei gewählten Volkskammer hatte das Neue Forum ein Gesetz zur Aufarbeitung aller Akten der Staatssicherheit eingebracht. Was die Politiker beider Staaten, die nach der Währungsunion den deutsch-deutschen Einigungsvertrag aushandelten, nicht weiter interessierte. Sie wollten alle Akten wegschließen ins Bundesarchiv oder – Augen zu und Akten zu, statt Augen auf und Akten auf – im Zuge einer Generalamnestie vernichten. In offiziellen Begründungen war die Rede von Datenschutz und der nötigen Wahrung der Persönlichkeitsrechte.
In Wahrheit hatten sie wohl andere Motive.West-Politiker befürchteten eine Veröffentlichung ihrer seit Jahrzehnten von der Stasi und deren Westagenten abgehörten Gespräche, in denen beispielsweise dokumentiert war, wie sie in Wahrheit über ihre Parteifreunde urteilten, mit welchen Verbalinjurien sie die bedachten, mit welchen Intrigen sie ihre Gegner fertigmachten. Insgesamt 25 000 westdeutsche Politiker, Manager, Journalisten, Beamte dürften in den vierzig real existierenden Jahren der DDR bespitzelt worden sein.
Unter denen bin auch ich, registriert in der VSH-Kartei der HA II AKG. Die Abkürzungen muss ich zunächst entschlüsseln, um mich dem Kern zu nähern.VSH bedeutet Vorverdichtung, Suche, Hinweise. HA heißt Hauptabteilung und hinter AKG steckt die Auswertungs- und Kontrollgruppe. Die HA II war zuständig für Aufdeckung und Abwehr geheimdienstlicher Angriffe gegen die DDR, die Abteilung 13 zuständig für die Bearbeitung westlicher Journalisten. Unter A/06041/14103184 wird meine »fachliche Arbeit« beim »Stern« eingeschätzt, bevor ich 1986 Chefredakteur wurde, und in den Rosenholz-Dateien finde ich mich
wieder in der Personenkartei F 16/ HVA mit der Registriernummer XV/362/75, die auf einen Objektvorgang (OVO) verweist. Die zuständige Abteilung X der HVA war unter anderem zuständig für die Desinformation »bedeutsamer Medieneinrichtungen und wichtiger Journalisten der Bundesrepublik Deutschland, Lancierung von bearbeiteten Materialien... und Einsatz von Einflussagenten«.
Warum sie damals gegen einen freien Zugang zu den Akten waren, konnten ostdeutsche Politiker, egal, welcher Partei sie angehörten, in gemeinsamer Sorge begründen. Sie befürchteten Mord und Totschlag, falls alle ein Recht auf Akteneinsicht
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