Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
erwarten bzw. nicht auszuschließen sind. Es sind geeignete Maßnahmen festzulegen, um erforderlichenfalls kurzfristig die Zuführung bzw. Festnahme solcher Personen zu realisieren.« Der Befehl landete im Papierkorb, Mielke und sein Ministerium waren wenig später Geschichte.
Typisch die im demokratischen Deutschland nachgereichten Erklärungen seiner treuen Genossen, durchaus vergleichbar denen der Volksgenossen nach 1945: Generalmajor Erich Rümmler, als Leiter der Arbeitsgruppe des Ministers Mielke verantwortlich für die Vorbeugemaßnahmen, behauptete vor einem Untersuchungsausschuss des Sächsischen Landtages, er habe erst nach dem Umbruch, den er selbstverständlich »Wende« nannte, ausgerechnet durch einen Artikel im ehemaligen SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« erfahren, wie viele DDR-Bürger für die Isolierungslager vorgesehen waren.
Die bürokratische Banalität der Bösen kannten die Bürgerrechtler 1990 so genau noch nicht, aber sie ahnten, dass hinter den Mauern der Stasi-Festungen fieberhaft versucht wurde, Beweise für das Böse zu vernichten. Als sie erfuhren, dass die Bewacher der Akten mehr Angst hatten vor ihnen als sie vor denen,
stürmten sie im ganzen Land die Ämter. Die Arbeitsgruppe »Sicherheit« des Runden Tisches zum Beispiel nahm am 17. Januar ihren Namen wörtlich, besetzte die Zentrale der Staatssicherheit in der Normannenstraße in Berlin-Lichtenberg und sicherte die dort lagernde Vergangenheit für die Nachwelt.Vollständig war die Aktenlage der Nation schon nicht mehr. Insgesamt 5800 Säcke waren im Kupferkessel-Raum gestapelt, gefüllt mit Unterlagen, die von der Stasi-Belegschaft mühsam manuell zerrissen wurden, weil die Schreddermaschinen und Reißwölfe wegen Überlastung nicht mehr funktionierten.
Einen solchen Anblick vergisst man doch sicher nie. Stimmt, sagt mir der heute für juristische Fragen im Staatskirchen-, Europa-, Sozial- und Steuerrecht bei der Evangelischen Kirche Deutschlands zuständige Oberkirchenrat David Gill, schenkt uns Kaffee ein, schiebt Kuchen über den Tisch und schließt das Fenster, weil das Stimmengewirr der Touristen auf dem Gendarmenmarkt in sein Büro dringt. Aber eigentlich sei er beim Sturm in Berlin-Lichtenberg gar nicht dabeigewesen, sondern erst einen Tag später hingefahren, als er erfuhr, dass die Freunde vor Ort Unterstützung brauchten. »Ich war damals dreiundzwanzig, und irgendeine politische Erfahrung hatte ich nicht. Allerdings bin ich als Pfarrerskind auf dem Land aufgewachsen, habe im Freiraum der Herrnhuter Gemeine früh gelernt, offen zu reden. Das kam mir zugute.«
Gill war weder bei den Jungen Pionieren noch bei der FDJ, er musste nach der zehnten Klasse die staatliche Schule verlassen. So erging es allen Jugendlichen in der DDR, die sich dem Staat verweigerten und sich auf eine höhere Instanz beriefen, auf Gott. Gill begann eine Klempnerlehre, schaffte es dann, an einem der drei Gymnasien, die von der Kirche unterhalten wurden, das Abitur nachzumachen, studierte Theologie, um Pfarrer zu werden. »Ohne das Wunder der Einheit wäre ich das auch geworden.« Am Sonntagmorgen nach dem Mauerfall fuhr er nach Westberlin, betete mit vielen Gläubigen in der Kirche der Herrnhuter Gemeine in Neukölln und dankte Gott für die erwiesene Gnade, für dieses Wunder.
In der Stasi-Zentrale bei den Besetzern hat man Verwendung für ihn. Aktionen müssen koordiniert, Arbeitsgruppen bestimmt, Diskussionen geleitet werden. Gill sitzt dabei und redet mit, auch mit denen von der anderen Seite: »Unsere Gegenüber hatten Manieren, waren nicht diese üblichen Mielke-Typen.Wir brauchten die ja auch, weil wir uns nicht auskannten im Aktensystem. Es war fürchterlich da drinnen, aber Angst hatte ich keine mehr. Vielleicht auch keine Zeit, Angst zu haben? Wir wollten ja nicht unbedingt einen Geheimdienst enttarnen, wir ahnten ja, wie die waren. Es ging darum, den Apparat aufzubrechen und den Bürgern ihre Geschichte zurückzugeben.« Weil er gut reden kann, fällt die Wahl auf ihn, als das Bürgerkomitee einen Sprecher sucht. David, du kannst das, mach das mal. Er hilft. Bleibt aktiv bis April 1990 und will dann eigentlich sein Studium fortsetzen, denn die vorparlamentarische Kontrollinstanz braucht man seiner Meinung nach dann nicht mehr, weil es ein frei gewähltes Parlament gibt.
Aber ihn braucht man, vor allem einer braucht ihn: Joachim Gauck.Am Ende einer Ausschusssitzung, zu der er alsVertreter des Bürgerkomitees und Kenner der
Weitere Kostenlose Bücher