Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
Materie geladen ist, fragt ihn der künftige Bundesbeauftragte, ob er nicht Lust habe, in diesen aufregenden Zeiten Politik praktisch zu erleben statt sich in Vorlesungen Theorien anzuhören. Gill sagt zu. Zieht mit Gauck in die Behörde, wird mit nur vierundzwanzig Jahren einer der Referatsleiter, später Pressesprecher. Er bleibt dabei bis 1992, beginnt dann Jura zu studieren, weil ihn das Virus Politik gepackt hat, macht seinen Master in den Vereinigten Staaten und landet mit den Erfahrungen aus beiden Fächern, Jura wie Theologie, als Verbindungsmann zur Bundes- und Europapolitik bei der Evangelischen Kirche, dort aufs Feinste verbindend seine Leidenschaften Kirche, Politik, Staat. »Dass manche früher bei der Stasi waren, das wussten wir. Aber wir brauchten sie, um die Strukturen zu verstehen. Es war in jeder Hinsicht eine spannende Zeit. Ich war jung, war unbelastet, unbekümmert oder gar naiv, sicher auch, ich hatte den Ostbonus und kannte mich zumindest aus im DDR-Alltag.«
Dieser Alltag war durchorganisiert in Kampfgruppen, Kader,
Hausmeister, Brigaden, denn die Überwachung des Volkes war neben dem Aufbau des Sozialismus oberstes Ziel der SED. Im August 1989 wurde von Mielke angeordnet, eine Liste aller Datenspeicher in der DDR anzulegen, die das Ministerium für seine Zwecke nutzen wollte. Das hieß noch schärfere Kontrolle, eine Ausweitung der Überwachung und damit unkontrollierter Zugriff auf Akten und Unterlagen in Krankenhäusern, Bibliotheken, Banken, Sparkassen, Versicherungen. Postämter sollten vier Wochen lang alle Telegramme speichern, außerdem Listen anlegen, wer welche Zeitungen und Zeitschriften abonniert hatte. Zwei Monate später war auch dieser Befehl Makulatur.
Die Krake mit den tausend Fangarmen wusste durch Agenten wie Schnur oder Böhme oder Knud Wollenberger, dessen Frau Vera zusammenbrach, als sie aus ihrer Akte erfuhr, dass ausgerechnet ihr Mann sie bespitzelt hatte, immer genau, wo die Opposition sich traf und was sie plante. Aber als die ihre Furcht besiegte, ihre Ohnmacht überwand und zur Macht auf der Straße wurde, war das gesammelte Wissen der Stasi-Beamten wertlos geworden. Die oben in der Partei, an die sie ihre Erkenntnisse weitergaben mit der Bitte um entsprechende Einsatzbefehle, glaubten inzwischen selbst nicht mehr an eine Wende in ihrem Sinne.
Chefideologe Kurt Hager soll angeblich im Politbüro sogar Lenin zitiert haben, aber ob das stimmt? Hätte zwar gepasst, klingt aber allzu passend, um auch noch wahr zu sein: »Meist genügt es für eine Revolution noch nicht, dass die unteren Schichten nicht wie früher leben wollen. Dazu ist noch erforderlich, dass die oberen Schichten nicht wie früher wirtschaften und regieren können.« Da ist was dran, denn die eigentlichen staatlichen Aufgaben wie funktionierende Infrastruktur, Sanierung der Städte, Versorgung mit Gütern usw. wurden in der DDR vernachlässigt bis hin zur Verwahrlosung des Staates.
Die ist sichtbar bis heute.
Im Vorbeifahren wirkte das Gebäude am Alexanderplatz, obwohl es noch als geeignet für menschliche Besiedlung eingestuft war, als müsste morgen früh sein Abriss beginnen. Doch es galt,
wie so oft im Osten, dass auch hier nichts so war, wie es auf den ersten Blick schien.Abrupt endete das rostbraune Drahtgitter, und direkt daneben begann eine neue Welt. Fast versteckt, übergangslos im Anschluss, lehnte am eingezäunten, verrotteten Plattenbau ein anderer, zwar ebenso menschenfeindlich hässlich, aber in dem wurde Geschichte geschrieben – oder umgeschrieben.
Das Schild am Eingang kommt mir kaum größer vor als die Handtasche meiner Großmutter, in die einst passte, was sie für eine Wallfahrt brauchte: Gesangbuch, Rosenkranz, Butterbrezeln, Taschentücher. Im rechteckigen Messingblech war eingraviert, wer hier wohnte: »Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik«. Ein Bundesadler schmückte das Schild.
Hier wurde die Vergangenheit der DDR verwaltet. Einstige Helden des 1989 erwachenden Volkes wie Wolfgang Schnur vom Demokratischen Aufbruch oder Ibrahim Böhme von der SPD entpuppten sich nach Aktenlage über Nacht als Volksverräter, als 1990 ihre Tätigkeit bei der Staatssicherheit zutage kam.Was bei meinem Besuch in der Anstalt miefte, waren allerdings nicht vergrabene Leichen im Keller, sondern die veralteten Bedürfnisanstalten. Die Akten, in denen die Berichte der Spitzel penibel verzeichnet sind,
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