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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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lagerten im ehemaligen Ministerium in der Normannenstraße, und in denen ruhen fast zwanzig Jahre nach dem Umbruch viele inzwischen Verblichene, viele längst Entlarvte, viele Scheinheilige. Ob im Archiv noch eine Zeitbombe tickt, ob da ein noch wirklich wichtiger IM mit seinem Echtnamen schläft, der bislang davongekommen ist, weiß mit Sicherheit niemand.
    Den Weg zu seinem Büro, hatte mir der Mann am Telefon gesagt, würde ich allein niemals finden. Ich möge unten warten.Vor den Fahrstühlen schlurften Kreppsohlige mit gehetzter Miene und gebleichten Jeans an der Kantine vorbei zu Stechuhren, die automatisch ihr Tagwerk bestätigten, grüßten beim Hinausgehen in Richtung Alexanderplatz, wo sichtbar die Zone Ost lebt, als sei sie nicht schon lange tot, den Pförtner mit »Mahlzeit«, obwohl auch diese Zeit längst gegessen war.
    Der Referatsleiter für »Auskünfte und Ersuchen« holte mich ab. Wir gingen über lange Flure, um Ecken mal links und mal rechts – ich dachte an Kafka, was nahelag. Mein Begleiter nickte, als habe er meine Gedanken erraten. Wir passierten Männertoiletten, auf deren Türen handschriftliche Aufforderungen geklebt waren, wegen des stechenden Geruchs dieselben geschlossen zu halten. »Haben die Frauen angebracht«, erklärte Klaus Richter und lachte laut und freudlos. Die Hoffnung, dass sich etwas ändern ließe, und zwar nicht nur an der mangelnden Belüftung der Toiletten, hat er vor Jahren aufgegeben. Dass nur ein halbes Jahr später die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben der Behörde ein neues Gebäude zuwies, dass 2008 alle umziehen konnten in ein Juwel aus deren Besitz, kam vielen wie ein kleines Wunder vor. Mit der Adresse konnten sie problemlos leben: Karl-Liebknecht-Straße 31-33.
    Richters Sekretärin fängt ihren Dienst regelmäßig morgens um sechs Uhr an und ist deshalb jetzt am frühen Nachmittag längst zu Hause. Ob sie aus dem Osten stammt wie er, muss ich nicht erst fragen. Die anderen Deutschen standen früher bereits immer früher auf.Wer in die HO-Läden zu spät kam, wurde vom realen Leben bestraft, bekam keine Ware mehr, zum Beispiel Gurken, weil alles längst ausverkauft war. An den damals nötigen Überlebensrhythmus haben sie sich gewöhnt, haben ihn beibehalten, obwohl er nicht mehr nötig ist. Das zu behaupten ist gemein. Aber dass die Deutschen aus dem Westen gemein sein können, weiß Klaus Richter. Jetzt gibt es übrigens Bananen zu jeder Tageszeit.
    Auch Richter gehörte einst zur Stasi. Allerdings nur zwei Jahre. Während andere in höchste politische Ämter aufstiegen, obwohl ihre Tätigkeit unter Decknamen wie »Sekretär« zumindest umstritten war, reichte es bei Richter, nach vollzogener Einheit eine politische Karriere zu verhindern. In der Volkskammer arbeitete er als Geschäftsführer von Bündnis 90, doch bevor die Fraktion im Dezember 1990 umzog in den Bundestag nach Bonn, wurde seine Vergangenheit öffentlich. Zwischen 1971 und 1973 war Klaus Richter Inoffizieller Mitarbeiter des MfS, wurde sogar ausgebildet zum Kundschafter, doch danach stieg er aus für immer,
ohne jedoch dem System untreu zu werden: »Es war vor allem der kommunistische Antifaschismus, der mich beeindruckt und geprägt hat.« Aus der SED ist er erst im Dezember 1989 ausgetreten. Richter verteidigte sich vor der Fraktion, dass er nie diese Station seiner Biografie verschwiegen oder behauptet habe, als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften heimlich im Widerstand gewesen zu sein. Aber er zog die Konsequenzen und beendete seine gerade erst begonnene politische Laufbahn.
    In seinem Bewerbungsschreiben an den »Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes«, verfasst nach einem persönlichen Gespräch mit Joachim Gauck, Hansjörg Geiger und David Gill, hatte Richter vier Wochen vor der Enthüllung bereits selbst alles enthüllt: »Ich sah keinen Grund, ihn nicht in der Behörde anzustellen«, betont Joachim Gauck. Das sieht auch Marianne Birthler so. Im achten Tätigkeitsbericht der früher nach ihrem ersten Chef Gauck, jetzt nach ihr benannten Behörde wird der Fall Richter erwähnt, ohne dass sein Name fällt: »Einer der beiden Mitarbeiter [die früher im Ministerium für Staatssicherheit tätig waren, Anm. d. Verf.] … war als Inoffizieller Mitarbeiter in den Jahren 1971 bis 1973 erfasst und wurde als Resident ausgebildet.Vor dem geplanten Einsatz löste er sich 1973 vom MfS und

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