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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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Zuschlag ein Supermarkt erhielt, weil sich die Mehrheit im Stadtrat im Zweifelsfall für Aldi statt fürs Vergnügen entschied, nahm er es hin, so sei es nun mal Sitte in der Demokratie. Andere Kleinigkeiten bündelte Oecknigk zu Großem: Nachts sechs Stunden Straßenlampen gelöscht, woraufhin es Proteste gab, als »ob wir hier ein Nachtleben hätten, da habe ich denen erklärt – entweder Licht nachts oder Schwimmbad zu. Dann war Ruhe.«
    Natürlich gab es Proteste, als er die Grundsteuer um sechzig Euro pro Jahr erhöhte. Da hat er den Hausbesitzern mal kurz vorgerechnet, wie viel das im Monat ausmache und dass dies am
Ende für sie nicht mehr sei als eine Schachtel Zigaretten weniger. Das städtische Personal hat er nicht durch Entlassung, sondern durch verträgliche Ruhestandsregelungen und Umbesetzungen, wonach jetzt oft einer erledigt, was früher drei, vier kaum beschäftigte, von dreihundertundeins auf hundert reduziert, hat Stadtfeste organisiert, damit die Bürger spüren, wir sind eine Einheit, und wenn so eine Veranstaltung nur simpel »Nacht der Kneipen« heißt, ist das auch egal. Es läuft was.
    Oecknigk bietet seine Stadt überall an, scheut keine Reise, nützt jede Gelegenheit, nicht zuletzt die Kontakte, die er knüpfte, als die Herzberger den Brandenburger Nachbarn, die es schwer getroffen hatte, beim Kampf gegen das Hochwasser 2002 halfen. Die Stadtverordneten sind eh alle auf seiner Seite. Wenn es ums Überleben geht, kennen sie keine Parteien, dann duzen sich die Kinder der Mutter Ost im kleinen Herzberg so wie der Rainer und der Hans, der Lothar und der Richard, der Gregor und der Wolfgang usw. im großen Berlin.
    Der Patient Herzberg ist zwar noch lange nicht geheilt, denn die Arbeitslosigkeit ist noch doppelt so hoch wie die in der Landeshauptstadt Potsdam und liegt mit 18 Prozent nach wie vor im Landesdurchschnitt. Er ist jedoch nicht mehr sterbenskrank, sondern von der Intensivstation verlegt in den Krankensaal. Manchmal wird er schon auf die Terrasse geschoben und der frischen Luft ausgesetzt. »Selbst wenn nur drei Leute bei Mercedes arbeiten«, sagt Oecknigk, »strahlt draußen im Gewerbegebiet immerhin ein Stern.« So viele Sterne gibt es hier schließlich nicht. Außer denen nachts am Firmament. Und die leuchten gesamtdeutsch auch im Osten.
    Der Bürgermeister drängt. Hat natürlich noch einen dringenden Termin. Einen Geburtstagskaffee im Altenheim. Solche Begegnungen mit seinen Bürgern würde er nie versäumen. Er bringt mich zum Bahnhof.
    Zurück in die Zukunft.
    Das beschaulich preußische Potsdam liegt nicht weit entfernt von der Weltstadt Berlin, aber ist selbst auch eine Stadt von Welt.
Schon im Bahnhof riecht alles nach Wohlstand. Das täuscht, ich weiß.Wer die Wege der Touristen verlässt, landet schnell in Schlaglöchern. Die ehemaligen Russenkasernen, wie sie die Einheimischen verächtlich nennen, sehen immer noch aus wie Russenkasernen. Für das Palais, in dem der Ministerpräsident von Brandenburg arbeitet, zwei Minuten vom Bahnhof entfernt, gilt die selbstverständliche Maxime Sein statt Schein. Hier lässt es sich regieren.
    Matthias Platzeck zieht sein Jackett aus, hängt es über den Stuhl und achtet so wenig wie ich darauf, was ein Referent während des Gesprächs eifrig notiert. Er erzählt, um mir die Gegenwart zu verdeutlichen, erst einmal aus der Vergangenheit. Aus der selbst erlebten. »Wir haben am 4. Oktober 1989 in die Friedrichskirche am Weberplatz eingeladen, rechneten mit dreihundert bis vierhundert Leuten. Eine Stunde vor Beginn war der Weberplatz voll, die Kirche voll, die Veranstaltung musste jede volle Stunde wiederholt werden. Im Fußballstadion daneben lag die Bereitschaftspolizei, bereit zum Einsatz, aber die beschlossen, wir mischen uns nicht ein, sind draußen zu viele. An diesem Abend haben wir auch Geld gesammelt für die Gefangenen in DDR-Gefängnissen, und wir bekamen fast nur Scheine. Und da haben wir gemerkt, mit den Leuten kannst du Staat machen. Die gehen keinen Schritt mehr zurück, die wussten ja alle, dass sie gefilmt werden, es war ihnen egal.Vier Wochen später hatten wir dann fünfzigtausend in Potsdam auf der Straße, das ist nichts im Vergleich zu der Million in Berlin, aber gemessen an unserer Einwohnerzahl von 120 000 Einwohnern wahnsinnig viel.«
    Dieses Land Brandenburg ist sein Land. In dem hatte er fünfunddreißig Jahre verbracht, als dann die Revolution begann, und das Leben davor hat ihn geprägt.Wie viele

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