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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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Eigenschaft, stets zu viel zu reden. Danach hatte sie ihre Ruhe. Die Kanzlerin lacht. Die Spuren der Macht, die sich als Nebenwirkungen des Amtes in ihr Gesicht gegraben haben, sind plötzlich wie weggewischt, und mir gegenüber sitzt augenblicklich eine fröhliche junge Frau.
    Manche Ost-Frauen sind nicht nur selbstbewusster als manche westdeutschen Frauen, wie ich im Gespräch mit der Kanzlerin erfahren habe, und zwar auch deshalb, weil sie eine wichtigere Rolle zu erfüllen hatten im damaligen System als die im Westen. In der DDR brauchten Frauen aber auch eine besondere Stärke im Alltag, denn gleichberechtigt im Kollektiv am Fließband zu sein bedeutete noch lange nicht, dass dies der hauseigene Macho nach Feierabend privat genauso sah. Auch drüben gab es – so wie heute in den dreißig größten deutschen DAX-Firmen – nicht eine einzige Frau in höheren Führungspositionen oder gar am Tisch der Vergreisten im Politbüro. Allerdings waren Ost-Frauen im normalen Konfliktfall Ehe weniger erpressbar durch sie versorgende Männer als West-Frauen. Laut Statistik trugen sie vierzig Prozent zum Haushaltseinkommen bei, die Westfrauen nur achtzehn Prozent. Daran hat sich von den reinen Zahlen her betrachtet auch bis heute nichts geändert, trotz grassierender Arbeitslosigkeit Ost.
    Frauen müssen besser ausgebildet sein, sie müssen außerdem lernen, geduldig den richtigen Moment abzuwarten, um ihre eigenen Trümpfe auszuspielen. Die Kanzlerin hat selbstsichere Männer West mit ihren offenkundig unabänderlichen Nachteilen, Frau und Ost, deshalb so lange über Absichten und Pläne getäuscht, bis die in ihr keine weiter ernstzunehmende Konkurrenz mehr sahen. Dann hat sie sich, ihrer früher antrainierten Stärken bewusst, kühl und frech im richtigen Moment von ihnen abgesetzt. Man könnte Kohl dazu befragen oder Merz, Schäuble oder Stoiber, aber da die nie zugeben würden, von einer Frau besiegt worden zu sein, kann man es ebenso gut auch lassen.
    Landsmann Platzeck zählt überzeugend auf, was die Ostdeutschen bei den Demonstrationen des Herbstes 1989 geleistet haben, dass sie vernünftig gehandelt haben, dass sie sich nicht von der Staatsmacht provozieren ließen. Wie sie trotz Ohnmacht gewaltfrei die als unbesiegbar geltende Macht brachen.Weil sie viele Theologen und Pfarrer in ihren Reihen hatten, die sich in der Bibel auskannten, konnten sie diese friedliche Taktik dem durchaus
tatendurstigen Volk gegenüber zudem überzeugend begründen. So einflussreich wie damals war die Kirche nie wieder. In eine Schilderung des großen Aufwachens gehören Erinnerungen an viele kleine Siege. Der grüne Bürgerrechtler Platzeck, ausgebildeter Umwelthygieniker, ging Schritt um Schritt in die Politik, zunächst als Amateur an den Runden Tisch, dann als Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion Bündnis 90/Grüne in die Volkskammer, anschließend ohne besondere Aufgaben ins Kabinett Modrow, dann als Umweltminister in die gewählte Regierung Stolpe, wo er durch seinen unermüdlichen Einsatz bei der ersten Oderflut als volkstümlicher »Deichgraf« berühmt wurde, dann als Oberbürgermeister nach Potsdam. Schließlich zog er als Nachfolger des Übervaters Manfred Stolpe 2002 in das Büro ein, in dem wir jetzt an diesem Dezembernachmittag sitzen.
    Platzeck blieb trotz steiler politischer Karriere authentisch, ist keiner jener Spruchblasenakrobaten, die in der nahen Politarena der Hauptstadt um Beifall von den stets gut gefüllten Rängen heischen. Die Sehnsucht nach Bodenhaftung, nach seinen Wurzeln war außer der enormen physischen Erschöpfung sicher ein Grund, dass er den Vorsitz der SPD ohne Bedauern nach wenigen Monaten wieder aufgab und sich in seine Heimat zurückzog. Diese bundespolitische Erfahrung, die als Niederlage beschrieben wurde, hat ihn bescheiden gemacht und stark zugleich. Er ist mit sich im Reinen, hat festen Boden unter den Füßen, muss nicht mehr jedes Wort auf breite Wirkung hin wägen. Der Ministerpräsident freut sich täglich des Lebens.
    Diese Freude ist ansteckend, beispielsweise dann, als er vom Vopo erzählt, der ihm und seiner damaligen Freundin nächtens am 9. November die Glienicker Brücke versperrte und tapfer meinte, selbst wenn alles andere offen ist, dieser spezielle Übergang wird euch immer verschlossen bleiben, jetzt und in der Zukunft. Am nächsten Tag ging er mit allen anderen, die in die gleiche Richtung wollten, einfach rüber.Vom Vopo war nichts mehr zu sehen.
    Weit kam er

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