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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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nicht. Er weiß nicht mehr, wie weit, aber auf jeden
Fall nicht bis zum Kurfürstendamm, wo er mit seinen drei Töchtern hinwollte. »Wir sind in einem Haus gelandet, die Türen standen offen für alle, Wein wurde getrunken und gefeiert, und wildfremde Menschen fielen sich dauernd um den Hals. Meine Kinder bekamen westdeutsches Konfekt, das zumindest weiß ich noch. Ich hatte uns noch nie so augelassen positiv erlebt.« Am nächsten Morgen wollte er es erneut versuchen, aber er schaffte es nicht mal vors Gartentor bis zur Mülltonne. Alles, einfach alles, Straße wie Wege, war zugeparkt. »Man sah nur noch eine ebene Fläche von Autodächern, auf denen hätte man in den Westen laufen können. Ein irres Bild.«
    Angela Merkel hatte ein ähnliches Erlebnis, als sie nach dem Mauerfall drüben war. Irgendwer drückte ihr was zum Trinken in die Hand, wollte mit ihr anstoßen auf die Nacht der Deutschen. Dass es Bier nicht nur in Flaschen, sondern auch in Dosen gab, was ebenfalls den Osten vom Westen unterschied, Prost, das wusste sie zwar, aber sie hatte noch nie aus einer Dose getrunken. Mit ihrer Mutter war verabredet, als Scherz gedacht, denn diese Vorstellung war einfach irreal angesichts der steinernen Realität, im Hotel Kempinski in Westberlin Austern zu essen, falls je die Mauer fiele.
    Die parteilose Physikerin, mit einer Dissertation über die »Berechnung von Geschwindigkeitskonstanten von Reaktionen einfacher Kohlenwasserstoffe« zum Doktor rer. nat. promoviert, erfuhr 1989 an jenem deutschen Novemberabend in einer Sauna in der Schönhauser Allee, wo sie wohnte, dass der Fall des Falles Wirklichkeit geworden war. Zwar erschien es ihr erst unglaublich, aber sie sagte ihrer Mutter, offenbar sei es an der Zeit, schon mal das Westgeld zusammenzukratzen, bevor sie dann spontan selbst ihre Badetasche packte, die schwitzenden Frauen in der Sauna zurückließ und sich über die Bornholmer Straße aufmachte, um das real existierende Westberlin zu erleben, das auf DDR-Landkarten bis dahin nur als weißer Fleck verzeichnet war.
    Matthias Platzeck hat sich einen Blick fürs irdisch Wesentliche bewahrt. Das lässt sich sogar präzise verorten. Es gibt eine bestimmte
Stelle, wo er bei passender Jahreszeit während des morgendlichen Joggens stets Pause macht, Atem holt und dann einen Moment lang übers Wasser schaut: aufsteigender Nebel, unversperrte Sicht in alle Himmelsrichtungen. »Für mich ist das heute noch was Besonderes, dieser freie Blick, es hat den Zauber des damaligen Anfangs bis heute nicht verloren.« Platzeck ist dort groß geworden, wo er auch heute wohnt. Dass er noch erleben würde, was inzwischen selbstverständlich ist, grenzenlose Freiheit, hätte er wie fast alle drüben und hüben nie für möglich gehalten: »Die Zeit zwischen September 1989 und September 1990 war das aufregendste Jahr meines Lebens. Jeder neue Tag war spannender als der Tag zuvor, und schon der schien kaum überbietbar zu sein. Schlaf brauchte man nicht, es war einfach nur aufregend.«
    Ich hole ihn in die Gegenwart.
    Warum wird denn nicht jährlich ein Tag der friedlichen Revolution gefeiert, beispielsweise der 9. Oktober, oder der 9. November, der Tag, an dem die Mauer fiel, statt der üblichen Feiern am 3. Oktober, dem Tag der amtlich vollzogenen deutschen Einheit, von dem inzwischen im Westen viele überzeugt sind, es sei ihr Tag, die Einheit sei im Wesentlichen ihr Verdienst, weil sie so viel für den Aufbau Ost bezahlt haben?
    Ach ja, sagt Platzeck, er frage sich manchmal auch, warum sie im Osten nicht selbstsicherer sind. »Vielleicht brauchen wir noch ein paar Jahre? Ich hege die stille Hoffnung, das 20. Jubiläum des Mauerfalls wird unser Jubelfest werden, denn 2009 müsste die Distanz zu damals groß genug sein, um unseren eigenen Stolz entwickelt zu haben, und der trägt uns dann auch in der Zukunft.«
    Dafür muss die Vergangenheit von denen verarbeitet werden, die für sie verantwortlich waren. Günter Schabowski zum Beispiel, Mitglied einst des Politbüros und des ZK, hat sich selbstkritisch seiner DDR-Karriere gestellt, er saß im Gefängnis und akzeptierte das Urteil, sprach nie von Siegerjustiz. Dafür verachten ihn ehemalige Genossen.Wegen seiner sich selbst nicht schonenden Offenheit aber gewann er die Achtung vieler Menschen,
auch die der Kanzlerin. Aber nicht nur die Schuldigen, auch die Schuldlosen müssten sich schonungslos mit ihren deutschen Biografien auseinandersetzen, denn die haben sie nun mal

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